Riigikogu - Haus der Demokratie Tallinn
Masterthesis Winter 2021/22

Herausgegeben vom Fachgebiet Entwerfen und Baukonstruktion (Prof. Prof. Felix Waechter)

Architektur als Symbol, als Abbild eines politischen Systems durchzieht die Kulturgeschichte. In dem Sinne sind Parlamente das Abbild, Ausdruck und Visitenkarte demokratischer Gesellschaften. Die Typologie der Parlamentsbauten ist vielfältig und drückt das Grundverständnis von Regierung und Opposition als Gegenüber von Legislative und Exekutive, des gleichzeitigen Gegenübers und Miteinanders von parlamentarischer Mehr- und Minderheit aus.

Aufgabe der Masterthesis ist der Entwurf eines Parlamentsgebäudes für die estnische Hauptstadt Tallinn. Die besondere Lage Tallinns zwischen West und Ost, zwischen Stockholm, Helsinki und St. Peterburg, sowie das stete Streben Estlands nach Unabhängigkeit von wechselnden Fremdherrschaften durch die Dänen, Schweden, Deutschen bzw. später Russen lassen die Hafenstadt an der Ostsee als einen idealen Ausgangspunkt erscheinen. Auf dem Domberg, das Meer immer im Blick, liegt am Rande des dichten Gefüges der Altstadt, die heute als Parlament genutzte historische Schlossanlage mit dem Bergfried Pikk Hermann. Weder die Anmutung des unter der Zarin Katharina 1767-73 umgebauten spätbarocken Schlosses mit seinen klassizistischen Fassaden noch die Typologie und die Atmosphäre des Saals entsprechen dem demokratischen Selbstverständnis aber auch den Anforderungen für den demokratischen Diskurs.

Dennoch scheint der Ort als solcher geeignet, denn das erste estnische Parlament (auf estnisch: Riigikogu) wurde von 1920 bis 1923 nach Brandschäden anstatt des Konventsgebäudes des Schlosses hier errichtet, nachdem 1918 die Unabhängigkeit von Russland erklärt wurde. Auch spiegelt die Festung die wechselvolle Geschichte Estlands wider.

In der historischen Schlossanlage, in direkter Nachbarschaft prägnanter Gebäuden wie der Alexander-Newski-Kathedrale, der Domkirche St. Marien ist ein identifikationsstiftender Typus und ein Ausdruck zu finden, der der besonderen Nutzung des Gebäudes gerecht wird, aber gleichzeitig einen angemessenen Beitrag zur Stadt leistet. Herzstück des Raumprogramms ist der Plenarsaal für 110 Abgeordnete mit angrenzender Lobby und zugehörigen Präsidentenzimmer bzw. Sitzungssaal des Ältestenrats. Umrahmt wird der Plenarbereich von einer Lobby als Kommunikations- und Begegnungsbereich der Parlamentsmitglieder und der Bürgerschaft. Zu entwerfen ist ein offenes Haus der Demokratie, ein Haus und Lernort für die Bürgerschaft, in dem die politischen Prozesse, die Struktur und Arbeit des Parlaments sichtbar wird.

Die besondere Situation eingebettet in die einzigartige stadträumliche Struktur erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit dem Ort; die Verknüpfung von Gebäude und Freiraum, Zugang und Erschließung, Einblick und Ausblick sind die zentralen Themen bei der Entwicklung der städtebaulichen Setzung. Ohne auf die geschichtsträchtigen baulichen Zeugnisse zurückzugreifen oder zu ihnen in Konkurrenz zu treten ist eine Sprache und Zeitschicht zu finden, die die Wandlungen des Ortes wahrnehmbar und sichtbar macht.

Auf dem Domberg in Tallinn und in unmittelbarer Nähe zur bekannten Alexander-Newski-Kathedrale befindet sich im Toompea Castle der RIIGIKOGU, das Parlament Estlands. Umgeben von Grünstrukturen, der Altstadt und Teilen der mittelalterlichen Befestigungsanlage entsteht neben dem bisherigen höchsten Turm, dem Pikk Hermann, ein neuer Hochpunkt. Durch die markante Setzung wird eine Fernwirkung im städtischen Kontext und eine Sichtbarkeit aus allen Himmelsrichtungen erreicht, der bisherige Vorplatz gefasst, auf einen Eingriff in die erhaltenswerten Bestandsstrukturen verzichtet und ein Übersehen des Parlamentsgebäudes neben der auffälligen russischen Kathedrale ausgeschlossen. 

Das „Haus der Demokratie“ steht für das Zusammenspiel von Parlament und Bürgerschaft, für die Möglichkeit des Austausches und der Transparenz. Bürger*innen und Parlamentarier*innen teilen sich verschiedene Geschosse und einige ihrer Nutzungen und durch eine geschickte Wegführung und deren offene Gestaltung erhalten die Bürger*innen zu fast allen Zeitpunkten Einblicke oder gar Zugang zum politischen Geschehen. Während der Turm durch seine Hülle und seine Symbolsprache zunächst erhaben erscheint, wird die Symbolik im Inneren umgekehrt. Über die in den Plenarsaal hineinragende Besuchertribüne können Besucher*innen den Sitzungen des Parlaments folgen. Das darüber befindliche Café sowie die Aussichtsplattform auf dem höchsten Punkt des Gebäudes bieten weiteren Raum zum Austausch. Mit direktem Blick über die Hauptstadt und darüber hinaus wird der Stellenwert der Demokratie in estnischen Gesellschaft deutlich.  

Die markante Skulptur der Erweiterung des estnischen Parlaments steht kraftvoll im Gouverneursgarten und bildet den südlichen Abschluss der Tallinner Oberstadt auf dem Domberg. Der fünfgeschossige Solitär kontrastiert mit seiner Klarheit die umgebende Altstadt mit der klassizistischen Schlossfassade und der reich verzierten Alexander-Newski-Kathedrale. 

In Anlehnung an die Beständigkeit eines Felsens in der Brandung entsteht ein sichtbarer, selbstbewusster Ort für die junge Demokratie Estlands. Der freistehende Baukörper ermöglicht den Besucher*innen das Gebäude von allen Seiten wahrzunehmen und an der alten Stadtmauer entlangzugehen, denn der Zugang zum Park mit dem charakteristischen Wachturm bleibt erhalten. Aus Sichtbeton mit großformatigen Tafeln in horizontaler Richtung geschalt, greift er das Thema eines Kalksteinfelsens auf. Die archaische Kraft des Monoliths bildet eine haptische, lebendige Oberfläche in vertrauten Grautönen. Im rauen Klima der Ostsee wird die Fassade eine natürliche Patina entwickeln und sich so mit der Zeit der Umgebung annähern. 

Mit einladender Geste öffnet sich das Foyer zum Schlossplatz und dient als Verteiler zum angrenzenden Restaurant, sowie zur Ausstellung im Sockelgeschoss, den Sitzungssälen im ersten Obergeschoss und der Besuchertribüne des Plenarsaals im vierten Obergeschoss. Der Galerietunnel verbindet die Erweiterung und das Schloss für die Abgeordneten bequem und sicher. Oberlichter versorgen den Tunnel tagsüber mit natürlichem Licht und inszenieren den Übergang von Platz zum Garten in der Nacht. Aus dem Sockelgeschoss erschließt der Doppeldeckeraufzug den Plenarsaal und die Besprechungsräume. 

Der Innenraum profitiert von gezielten Öffnungen, die ausgewählte Blicke in den Außenraum gewähren und durch das Tageslicht Besucher*innen und Abgeordnete intuitiv leiten. Sorgfältig verortete Lufträume verstärken die sakrale Lichtführung und schaffen durch die Sichtverbindungen eine Nähe zwischen Besucher*innen und Parlament. Zwischen dem massiven Kern und der monolithischen Gebäudehülle entstehen individuelle Raumsequenzen mit dem Plenarsaal als Höhepunkt unter einem weitspannenden, polygonalen Dach.

Demokratie bedeutet übersetzt Herrschaft des Volkes. Aus diesem Grund muss ein Parlament – das Haus der Demokratie – für alle Bürger offen, zugänglich und transparent sein, da in diesem Gebäude politischen Entscheidungen getroffen werden, die einen jeden Bürger betreffen.

Einblicke werden in peripherer, ungesteuerter Weise, aber auch als inhaltlicher, also politischer Blick in das Haus der Demokratie ermöglicht. Somit wird das Parlament zum Begegnungsort für Politiker und Bürger.

Ein Ensemble von drei pavillonartigen Volumen ist auf dem Mauersockel südlich des Schlosses angeordnet. Dabei begrenzt das Auftaktgebäude den bisher schlecht gefassten Schlossvorplatz und gibt diesem eine klare Form. Dieser erste Baukörper, das Bürgerforum, dient als zentraler Ankommens- und Erschließungsort und soll jederzeit und für alle Bürger zugänglich sein.

Von dem Foyer ausgehend erschließt eine große Magistrale das öffentliche und zunehmend nichtöffentliche Bereiche. Die Belichtung der zentral gelegenen Räume, zum Beispiel des Foyers oder der Erschließungszone, erfolgt über Tiefhöfe.

Aus dem Foyer gelangen die Besucher in den zweiten oberirdischen Baukörper. Dieser befindet sich direkt über dem Plenarsaal, so dass Besucher über den Besucherumgang stattfindende Plenarsitzungen direkt verfolgen können. Im dritten oberirdischen Baukörper befindet sich das Restaurant, das über ein separates Treppenhaus aus dem Plenarbereich erschlossen werden kann, aber auch vom Parlament getrennt funktioniert.

Die internen Funktionsräume des Parlaments sind so organisiert, dass Besucher hier keinen Zutritt haben, jedoch öffnen Verglasungen die großen Bögen der historischen Stadtmauer und ermöglichen Eindrücke aus den Parlamentssitzungen.

Ausgezeichnet mit einem WA-Förderpreis

Der Findling setzt sich selbstbewusst an die Stadtmauer auf der Westseite des Riigikogu an das Schloss heran. Er verbindet auf diese Weise das einst ausschließlich auf dem Plateau stattfindende politische Geschehen mit dem alltäglichen Leben auf der Bodenniveau der Stadt. 

Die Besucher*innen können den Findling von Westen, aus den neueren Stadtteilen kommend, auf der ehemaligen türkischen Schlossbefestigung betreten. Für die Parlamentarier*innen ist das Betreten über das Hofgeschoss, in Verbindung mit dem Bestand möglich. Die Setzung des Findlings ermöglicht völlig neue stadträumliche Bezüge auf der früheren Rückseite des Schlosses.

Die Gebäudestruktur folgt der „Haus im Haus“ Logik. Um das innere Volumen schlängelt sich die Erschließung gegen den Uhrzeigersinn nach oben, sodass immer neue Lufträume und Raumbeziehungen entstehen. Der Auftakt der Erschließung sowie alle besonders wichtigen Räume sind direkt an die bewusst unberührte alte Stadtmauer angeordnet.

Die unteren Geschossen beinhalten die vordringlich für Besucher*innen gedachten Nutzungen. Im Erdgeschoss befinden sich das Restaurant sowie Garderobe und Sicherheitsschleuse. 

Im 1. und 2. Obergeschoss sind Bibliotheks- und Multimediaräume mit sich angliedernden Räumen für Workshops und Sitzungen angeordnet. Im 3. Obergeschoss können Besucher*innen in ein Geschoss für zusätzliche parlamentarische Räume hineinsehen, jedoch dieses nicht erschließen. Ebenso folgt die Beobachtungslogik im 4. Obergeschoss, das von der Erschließung spannende Einblicke in den Plenarsaal bietet. Im 5. Obergeschoss endet die sich um das innere Volumen schlängelnde Erschließung mit der Besuchertribüne, von der aus die Besucher*innen in den Plenarsaal sehen und zuhören können. 

Um das Parlament und das Schloss auch für Führungen attraktiver gestalten, wird die Remise, welche sich an die Stadtmauer auf der, des Körpers gegenüberliegenden Seite befindet seitlich geöffnet, sodass ein Ausgang direkt in den Innenhof des Rigiigoku entsteht.

Parlamentarier*innen erschließen den Plenarsaal wie die administrativen Räume über den Bestand durch Öffnungen in der Stadtmauer. Ein offenes, zweigeschossiges Foyer in der Remise betont die Schnittstelle zwischen alt und neu. Im Foyer wird durch eine gewandelte Treppe das 3. Geschoss desFindlings erschlossen. Hier befinden sich die zusätzlichen parlamentarischen Räume wie der Ältestenratssaal und das Kaminzimmer.

Neben der massiven Stadtmauer ist das neue Parlamentsgebäude für Tallinn monolithisch gestaltet. Dämmbeton dient als Außenhülle. Das innere Volumen ist mit Stahlbetonwänden und Bubbledeck konstruiert. Es sind gezielte großformatige Öffnungen vorgesehen, die zum Verweilen einladen und besonders die Schnittstelle zwischen außen und innen spürbar machen.

Die Erweiterung des Parlaments Riigikogu in Tallinn schafft eine Verbindung zwischen Alt und Neu, zwischen Geschichte und Zukunft. Ein öfftentliches Forum auf dem ‘Lossi plats’ der dem ehmaligen Schlosses Toompea östlich vorgelagert ist und durch die Aleksander ‘Nevski Katedraal’ begrenzt wird, holt den Besucher an bekannter Stelle zwischen Parlament und Kirche ab. 

Ein Ort der Demokratie, des öffentlich zugänglichen Diskurses, der beiläufig erschlossen werden kann. 

Entlang eines vielfältigen unteridischen Raumangebots, mit Öffnungen, Weitungen und Engstellen mit differnziertem Lichteinfall und unterschiedlichen räumlichen Situationen wird der Besucher durch die verschiedenen Zeitschichten geführt.

Als verbindendes Element und den Ort respektierend wird der neue Plenarsaal westlich der alten Stadtmauer vorgelagert, sichtbar gemacht und ergänzt das über Jahrhunderte gewachsene Gefüge am Toompea Berg mit einem Panoramablick über die Stadt.