Herausgegeben vom Fachgebiet Entwerfen und Baukonstruktion (Prof. Prof. Felix Waechter)
Architektur als Symbol, als Abbild eines politischen Systems durchzieht die Kulturgeschichte. In dem Sinne sind Parlamente das Abbild, Ausdruck und Visitenkarte demokratischer Gesellschaften. Die Typologie der Parlamentsbauten ist vielfältig und drückt das Grundverständnis von Regierung und Opposition als Gegenüber von Legislative und Exekutive, des gleichzeitigen Gegenübers und Miteinanders von parlamentarischer Mehr- und Minderheit aus.
Aufgabe der Masterthesis ist der Entwurf eines Parlamentsgebäudes für die estnische Hauptstadt Tallinn. Die besondere Lage Tallinns zwischen West und Ost, zwischen Stockholm, Helsinki und St. Peterburg, sowie das stete Streben Estlands nach Unabhängigkeit von wechselnden Fremdherrschaften durch die Dänen, Schweden, Deutschen bzw. später Russen lassen die Hafenstadt an der Ostsee als einen idealen Ausgangspunkt erscheinen. Auf dem Domberg, das Meer immer im Blick, liegt am Rande des dichten Gefüges der Altstadt, die heute als Parlament genutzte historische Schlossanlage mit dem Bergfried Pikk Hermann. Weder die Anmutung des unter der Zarin Katharina 1767-73 umgebauten spätbarocken Schlosses mit seinen klassizistischen Fassaden noch die Typologie und die Atmosphäre des Saals entsprechen dem demokratischen Selbstverständnis aber auch den Anforderungen für den demokratischen Diskurs.
Dennoch scheint der Ort als solcher geeignet, denn das erste estnische Parlament (auf estnisch: Riigikogu) wurde von 1920 bis 1923 nach Brandschäden anstatt des Konventsgebäudes des Schlosses hier errichtet, nachdem 1918 die Unabhängigkeit von Russland erklärt wurde. Auch spiegelt die Festung die wechselvolle Geschichte Estlands wider.
In der historischen Schlossanlage, in direkter Nachbarschaft prägnanter Gebäuden wie der Alexander-Newski-Kathedrale, der Domkirche St. Marien ist ein identifikationsstiftender Typus und ein Ausdruck zu finden, der der besonderen Nutzung des Gebäudes gerecht wird, aber gleichzeitig einen angemessenen Beitrag zur Stadt leistet. Herzstück des Raumprogramms ist der Plenarsaal für 110 Abgeordnete mit angrenzender Lobby und zugehörigen Präsidentenzimmer bzw. Sitzungssaal des Ältestenrats. Umrahmt wird der Plenarbereich von einer Lobby als Kommunikations- und Begegnungsbereich der Parlamentsmitglieder und der Bürgerschaft. Zu entwerfen ist ein offenes Haus der Demokratie, ein Haus und Lernort für die Bürgerschaft, in dem die politischen Prozesse, die Struktur und Arbeit des Parlaments sichtbar wird.
Die besondere Situation eingebettet in die einzigartige stadträumliche Struktur erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit dem Ort; die Verknüpfung von Gebäude und Freiraum, Zugang und Erschließung, Einblick und Ausblick sind die zentralen Themen bei der Entwicklung der städtebaulichen Setzung. Ohne auf die geschichtsträchtigen baulichen Zeugnisse zurückzugreifen oder zu ihnen in Konkurrenz zu treten ist eine Sprache und Zeitschicht zu finden, die die Wandlungen des Ortes wahrnehmbar und sichtbar macht.