Pallaswie…? Weststadtwandel
Masterthesis Sommer 2019

Herausgegeben vom Fachgebiet Entwerfen und Städtebau (Prof. Nina Gribat)

In peripheren Lagen fast jeder Stadt finden sie sich: äußerst heterogene und vorwiegend gewerblich genutzte Gebiete, mit einer überdurchschnittlichen Anzahl von automobilgeprägten und flächenintensiven Gewerben und größeren und kleineren Box-Architekturen zwischen stark befahrenden Erschließungsstraßen. Peripherien also, teils in direkter Nachbarschaft zu zentral empfundenen Gegenden der Stadt, die oft auch Platz bieten für allerlei Nutzergruppen und Nutzungen, die dort ungestörter ihren Dingen nachgehen können als in reinen Wohnlagen oder die in solchen Randlagen schlicht und ergreifend mehr Platz für weniger Geld bekommen. Neben Recyclinghöfen, dem Müllheizkraftwerk, unzähligen Autohändlern und -dienstleistern, einem FKK-Saunaclub und diversen Fitnessstudios finden sich im Darmstädter Westen auch Veranstaltungsorte wie das weit über die Grenzen der Stadt bekannte Weststadtcafé und der Ponyhof.

Die Weststadt ist eine wilde zwischenstädtische Gegend, in der ein übergeordneter Gestaltungswille nicht erkennbar ist, die aber über die Jahre zum Sammelort vielfältiger städtischer Randnutzungen wurde. Zugleich stellt das Gebiet eine der wenigen innenstadtnahen Entwicklungsoptionen der nun zur smarten Schwarmstadt gewordenen Wissenschaftsstadt dar. Nur was für ein Stück Stadt kann oder soll hier entstehen? Die Darmstädter Weststadt wurde als ein möglicher Entwicklungsschwerpunkt der Stadt schon wiederholt diskutiert. 1995 stand das Gebiet als Ganzes im Fokus des 12. Darmstädter Gesprächs als die Stadt eine Handvoll bekannter Architekten wie Daniel Libeskind, Atelier 5 und Kees Christiaanse einlud, Entwicklungsvisionen zu erarbeiten und sie öffentlich im Rahmen eines thematisch fokussierten Symposiums zu präsentieren. Schon damals waren wesentliche Themen für den „Weststadtwandel“ die Integration von Wohnen und Arbeiten sowie eine prozessuale Entwicklung. Die Umsetzung verlief jedoch im Sande.

Im aktuellen Masterplanprozess DA2030+, der im September 2018 zuletzt öffentlich präsentiert wurde, tauchte das Gebiet wieder als einer der möglichen neuen Fokusräume für die Innenentwicklung auf. Mittlerweile haben sich die Rahmenbedingungen verschoben: einerseits hat sich die Wohnungskrise auch in Darmstadt deutlich verschärft und andererseits wurden mit der Einführung der „urbanen Gebiete“ – einer neuen Gebietskategorie der Baunutzungsverordnung – neue Voraussetzungen für eine stärkere Durchmischung von Wohnen und Gewerbe geschaffen. Mit dieser Masterthesis wollen wir aktuelle Beiträge zu einer höchst relevanten Fragestellung entwickeln. Denn: Für die Integration von Wohnen und Arbeiten, vor allem von produzierendem und teils auch störendem Gewerbe, gibt es in Deutschland kaum Beispiele. Innovative Lösungen sind also gefragt, die zwar speziell aus den Gegebenheiten des Darmstädter Westens entwickelt werden, aber aufgrund ähnlicher Gebietstypen und Problemlagen auch für viele andere Städte Modellcharakter entfalten können. Welche Quartierstypologien erlauben die größtmögliche urbane Vielfalt bei gleichzeitig hoher Aufenthaltsqualität? Wie sieht ein solches Zukunftsquartier aus? Außerdem sind strategische Entwicklungskonzepte gefragt, die über einen längeren Zeitraum wegweisend sein können.

„Zwischen Werkstatt und Dachterrassen“ sollen im Pallaswiesenviertel urbane Vielfalt und ein eigenständiger Quartierscharakter entstehen. Dazu folgt der Entwurf den drei Leitzielen, qualitative Freiräume zu schaffen, durch neue Gebäudetypologien eine neue Nutzungsmischung zu ermöglichen und ein nachhaltiges Quartier zu schaffen. Um den Entwicklungsprozess in Gang zu setzen werden sukzessive einzelne Flächen freigezogen und deren Nutzungen in baulich verdichteter Form auf Brachen oder bereits frei gewordene Grundstücke umgesiedelt. In Zusammenarbeit mit den ansässigen Firmen werden bestehende großflächige Areale geöffnet, die bisher umzäunt waren, so dass Durchwegung und Vernetzung im Entwurfsgebiet verbessert werden. Der Entwurf gliedert sich in Teilquartiere mit verschiedenen Schwerpunkten, die durch Wege und ein Platzsystem miteinander verbunden sind.

Östlich und westlich des Müllheizkraftwerks entstehen durchmischte Wohnquartiere in offenen Blockstrukturen, die an die bestehende Bebauung und Nutzung der inselartigen Wohnsiedlung bzw. des Johannesviertels anschließen. Seniorenwohnheim und Kita sind an den Park angebunden. Die grünen Innenhöfe stehen den Bewohnern für vielfältige Nutzungen offen.

An der Schnittstelle zwischen Wohnen und Gewerbe entstehen die Werkhöfe als ‚Markenzeichen‘ des neuen Viertels. In dem rund um die Uhr belebten Quartier befinden sich im Erdgeschoss Werkstätten, Gewerbe und Kultureinrichtungen, während auf den oberen Etagen gewohnt wird. Der Hof ist, im Unterschied zu den Wohnblöcken, nicht den Bewohnern, sondern den Werkstätten und der Produktivität gewidmet. Als private und gemeinschaftliche Freiflächen stehen den Bewohner stattdessen breite Dachterrassen zur Verfügung,

Das Schenck-Areal südlich der Pallaswiesenstraße wird umstrukturiert und in Zusammenarbeit zwischen den Firmen und der Stadt entsteht der Quartiersplatz mit Mobility Hub. Hier befindet sich das von Schenck mitbetreute Fab Lab, das allen Bürgern offen steht und auch Angebote für Schulen macht. Am Eingang ins Pallaswiesenviertel befindet sich dort ein Bürokomplex, in dem auch das bestehende Hotel und das Mobility Hub angesiedelt sind.

Im Norden des Plangebiets wir der bestehende Grünzug qualifiziert und zu einem Quartierspark erweitert. Der Pallaspark ist die grüne Oase des Stadtteils. Neben Raum für verschiedene Freizeitaktivitäten befinden sich hier das Sportzentrum und eine Schule. Richtung Osten ist der Park ist über eine neu geschaffene Grünverbindung an die Frankfurter Straße und damit an das Johannesviertel angebunden.

© Huyen Trang Dao & Mai Quynh La

© Huyen Trang Dao & Mai Quynh La

© Huyen Trang Dao & Mai Quynh La

© Huyen Trang Dao & Mai Quynh La

© Huyen Trang Dao & Mai Quynh La

In der stark gewerblich geprägten Weststadt Darmstadts erzeugen die autogerechte Erschließung, kaum öffentlicher Nahverkehr und eine schlechte Walkability eine insbesondere für Fußgänger anonyme und abweisende Atmosphäre. Wohnsiedlungen, Mischgebiete und großflächig angelegte Gewerbeeinheiten existieren nebeneinander und funktionieren jeweils für sich – ohne dabei miteinander in Kontakt zu treten. Über die abwechslungsreichen Kulisse hinaus bietet diese Konstellation das Potential, durch das gezielte Setzen von Kontrasten die vorgefundene Situation zu stärken. So entsteht ein Quartier, das den rauhen Charme seiner eigenen Identität erhält und aus scheinbar viel Widerspruch ein hohes Maß an Vielfalt, Lebendigkeit und Charakter erzeugen kann.

Aus der Analyse heraus ergibt sich für den Entwurf zudem eine Gliederung in einzelne ‚Schollen‘, die durch unterschiedliche Schwerpunktsetzung den vielfältigen und kontrastreichen Quartierscharakter prägen. Ein stark differenzierter Maßnahmenkatalog zielt dabei auf individuelle Antworten in den unterschiedlichsten Situationen und Lagen innerhalb des Plangebiets ab. So entsteht ein buntes Quartier mit hoher Aufenthalts- und Lebensqualität, mit vielfältigen Angeboten und einer breit gefächerten Bewohnerstruktur. Die Schollen bilden einen jeweils eigenen Charakter aus, besitzen typologische Alleinstellungsmerkmale und halten abgestimmte Angebote bereit. Sie werden mit unterschiedlichen Konstellationen von Wohnen und Gewerbe bespielt und ziehen mit ihren Eigenheiten jeweils unterschiedliche Nutzergruppen an. Gewerbliche Nutzung hat dabei unabhängig von der Ausrichtung der Scholle immer einen Platz – die Weststadt ist gewerblich geprägt und soll es auch bleiben. Dichte und Höhe der Bebauung reagieren auf die jeweils angrenzenden Gebäude- und Straßentypologien.

Öffentliche Angebote verteilen sich als lokale Zentren auf die Schollen: Im ‚Urbanen Viertel‘ dient ein MobilityHub an der Pallaswiesenstraße als multimodaler Umsteigepunkt, im ‚Grünen Viertel‘ werden die Gebäude des ehemaligen Grünflächenamtes zu einer Gärtnerei mit Café und Veranstaltungsprogramm umgenutzt, im ‚Kreativen Viertel‘ wird die Moschee um ein Gemeindehaus und ein Café ergänzt und eine neue Grundschule entsteht. Im ‚Produktiven Viertel‘ fördert ein hochschulangebundenes Gründerzentrum Studierende bei der Unternehmensgründung, ein Ausbildungszentrum unterstützt ansässige Unternehmen bei der handwerklichen Berufsausbildung und ein FabLab bietet frei zugänglichen Raum für Forschungen und experimentelles Arbeiten. Neue Querverbindungen tragen zur engen Vernetzung der Zentren und Schollen untereinander, und damit zu einem lebendigen Quartier und zu nachhaltigem Mobilitätsverhalten, bei.

© Max Wartusch & Alessia Weckenmann

© Max Wartusch & Alessia Weckenmann

© Max Wartusch & Alessia Weckenmann

© Max Wartusch & Alessia Weckenmann

© Max Wartusch & Alessia Weckenmann

Grundvoraussetzung für „Mischen Possible“ ist, die Betriebe im Enwturfsgebiet nicht zu verdrängen, sondern sie frühzeitig in die Planung einzubeziehen und so zum Teil eines gemeinsamen Weststadtwandels zu machen. Mit ihrer Kooperation stehen und fallen die Chancen für die Entwicklung hin zu einer durchmischten, lebenswerten Weststadt.

Großbetriebe wie Entega, Schenck oder das Müllheizkraftwerk bilden mit ihren enormen Grundstücksflächen Barrieren für die Durchwegung des Viertels in Ost-West-Richtung. Ihre Öffnung – sowohl räumlich als auch in der Interaktion mit ihrem Umfeld – ist daher zwingende Voraussetzung dafür, dass aus dem ‚nebeneinander Arbeiten‘ im Pallaswiesenviertel ein ’miteinander Leben‘ werden kann.

Der Entwurf identifiziert das Müllheizkraftwerk mit seinem großvolumigen Baukörper und dem hoch aufragenden Kamin als reizvollsten Ort im gesamten Betrachtungsraum. Es wird bereits in der ersten Entwicklungsphase durch eine multicodierte Gitterfassade als Leuchtturmprojekt inszeniert. Zur Frankfurter Straße ist ihm ein attraktiver urbaner Sportpark vorgelagert, so dass das Kraftwerk freigestellt und am Quartierseingang weithin sichtbar wird.

Das Areal südlich der Pallaswiesenstraße und der neuen Straßenbahnhaltestelle könnte in Kooperation mit Schenck entwickelt werden. Hier nehmen Gebäuderiegel die Richtung der Hallen auf dem Schenck-Areal auf, zu dem eine Schnittstelle in Form einer durch eine leichte Tragstruktur überdachten Passage ausgebildet wird. Die Mischtypologie der „Wohnfabrik“ bietet im Erdgeschoss Raum für Showrooms oder Verkaufsräume, während in den Obergeschossen gewohnt wird. Zur Kasinostraße schließen sich drei markante Wohntürme an, die mit ihrer flexiblen Grundrisseinteilung beispielsweise Clusterwohnungen ermöglichen. Diese Typologie wechselt sich mit den „Wohnregalen“ ab, die im Erdgeschoss lediglich kleingewerbliche Nutzungen beinhalten und deren Wohnungen, zum Beispiel Maisonette- und Kleinstwohnungen, über Laubengänge erschlossen werden. Zwischen den Gebäuderiegeln wechseln sich Werkhöfe und begrünte Plätze ab.

Im nördlichen Teil des Viertels entstehen offene Blockrandstrukturen, welche die Maßstäblichkeit des angrenzenden Johannesviertels aufgreifen und überwiegend Wohnen beherbergen, jedoch auch einige gewerbliche Hallengebäude oder Büronutzungen integrieren. Am nördlichen Quartiersrand entstehen neue Gewerbe-Hubs, das Knell-Areal wird mit gestapelten Gewerbetypologien bebaut und das EAD-Areal verdichtet.

© Maximilian Pfaff

© Maximilian Pfaff

© Maximilian Pfaff

© Maximilian Pfaff

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