Amatrice
Masterthesis Winter 2017/18

Herausgegeben vom Fachgebiet Entwerfen und Städtebau (Prof. Dr. Nina Gribat)

In der Nacht zum 24. August 2016, um 3:36h, wurde Mittelitalien durch ein heftiges Erdbeben erschüttert. Sein Epizentrum hatte es mit einer Stärke von 6,0 auf der Richterskala rund 10km unter der Erdoberfläche bei Accumoli, unweit der kleinen Ortschaft Amatrice, in der es 235 der ca. 2.600 Einwohner des Gemeindegebiets in den Tod riss. Ein derartig starkes Beben war aus der dünn besiedelten Region zuletzt von 1639 bekannt. Die Bilder des zur Hälfte eingestürzten Ortskerns waren damals in allen Medien zu sehen. Eine Reihe von Nachbeben brachte weitere Gebäude zum Einsturz und beschädigte die restlichen so stark, dass der ehemals bei Touristen beliebte Ausflugsort heute ein Trümmerfeld ist. Die Altstadt von Amatrice gibt es nicht mehr.

Amatrice hat seit dem Beben Aufmerksamkeit und Solidarität aus allen Teilen Italiens und der Welt erfahren, mit Spendengeldern und dem Einsatz vieler Freiwilliger. Die wesentlichen Funktionen des Stadtlebens wurden in temporären und improvisierten Strukturen untergebracht. Mit dem Wiederaufbau der Altstadt wurde bisher nicht begonnen, da die Räumungsarbeiten noch andauern, aber der Arbeits-, Planungs- und Aufbauwille ist ungebrochen. Noch ist die Frage ungeklärt, wie die Stadt wiederaufgebaut werden soll.

Lautete die gängige Antwort auf diese Frage im erdbebengeprüften Italien in den letzten Jahren stets „com’era, dov’era“ („wie es war, wo es war“), wird man sich derzeit jedoch der zahlreichen Ungereimtheiten bewusst, die ein solcher Ansatz des Wiederaufbaus mit sich bringen kann. Gerade für die entlegenen, landwirtschaftlich geprägten und oft überalterten kleinen Ortschaften der 2016 betroffenen Erdbebenregion scheint der Investitionsschub – insofern man sich überhaupt für einen Wiederaufbau entscheidet – große Chancen zu bieten, mit dem Wiederaufbau auch vor dem Erdbeben bestehende Fragen der Zukunftsfähigkeit anzugehen. Welche Wohn- und Wirtschaftsformen sind der Ortschaft angemessen? Wie lassen sich öffentlicher und gebauter Raum qualifizieren, ohne die wesentlichen prägenden Identifikationsmerkmale einzubüßen? Welche Gestaltungsansätze können die Diskussion zwischen Tradition, Denkmalschutz, Erdbebenprävention und Zukunftsvision fruchtbar bereichern? Wie lassen sich mit dem Wiederaufbau gar neue Wirtschafts- und Tourismuszweige stärken, welche dem Ort neue Zukunftsperspektiven eröffnen? Und inwiefern fordert der bauliche Erdbebenschutz eine Veränderung der bisherigen Baustrukturen?

Mit einem Städtebauentwurf, der das Gebiet der zerstörten Altstadt Amatrices umfasst, sollen Antworten auf diese Fragen gefunden werden. Ziel ist es sowohl einen strategischen-konzeptionellen Ansatz für den stadträumlichen Wiederaufbau zu entwickelt, als auch ein starkes, anregendes Bild der angestrebten Stadtgestalt und des angestrebten städtischen Lebens. Anhand des zu entwickelnden strategisch-konzeptionellen Ansatzes suchen sich die Entwurfsteilnehmer_innen eigene stadträumliche Schwerpunkte und Vertiefungen. Mit Hilfe eines starken Bildes stellen die Entwurfsteilnehmer_innen stadträumliche Qualitäten ihres Entwurfes atmosphärisch dar. Die Entwürfe sollen einen Beitrag leisten zum aktuellen öffentlichen Diskurs über die bauliche Gestaltung der Zukunft Amatrices, der von Planer_innen aus verschiedenen Behörden, Mitarbeiter_innen aus Verwaltung und verschiedenen politischen Gremien sowie den Bürger_innen gestaltet wird und von teils unterschiedlichen Interessen und auch Konfliktpotenzial geprägt ist. Es ist zu beachten, dass die Entwürfe das Potenzial für eine Weiterentwicklung in partizipativen Prozessen mit den verschiedenen Interessensgruppen in Amatrice bieten. Die Masterpläne sollten mit entsprechend dynamischen Entwicklungsoptionen gestaltet werden.

DIE BAUSTEINE VON AMATRICE

Der Schwerpunkt dieses Entwurfes liegt vor allem auf Wiederaufbau und Stärkung der lokalen Ökonomie und der Gemeinschaft. Identitätsprägend und Hauptwirtschaftszweig von Amatrice ist die Landwirtschaft und die daraus resultierenden lokalen Produkte. Sie sind weltweit bekannt sind und bieten ein wichtiges Potential für die zukünftige Selbstversorgung und autonome lokale Ökonomie. Durch das Aktivieren vorhandener Ressourcen soll ein innovatives, zukunftsfähiges Amatrice entstehen, das gleichzeitig autark und resilient ist.

Ein erster Schritt, die Stadt aus ihrer eigenen Kraft und Substanz wiederauferstehen zu lassen, ist die Nutzung des vorhandenen Bauschutts, der zu einem neuen Stein, der sogenannten „Pietra all‘Amatriciana“ gepresst wird. Dieser Stein steht symbolisch für den Neubeginn und legt den ersten Grundstein für die Rekonstruktion. Als weitere Bausteine für die Rekonstruktion dienen die in der Umgebung vorgefundenen natürlichen Ressourcen, die genutzt, ergänzt und in geschlossenen Kreisläufen integriert werden, um so einen Austausch zwischen Stadt und Land herzustellen. Als neue zusätzliche Bausteine entstehen einerseits der „Versorgungsring“, eine neue Gestaltung und Funktionlität des Stadtrandes mit Gemeinschaftsgärten und Dienstleistungen, und anderseits neue Gebäudetypologien wie das Kulturhaus oder der Forschungscampus, die die Idee der Selbstversorgung und Innovation unterstützen. Um den Bewohnern die Themen Selbstversorgung, Energie- und Essensproduktion näher zu bringen, soll der Ring Gemeinschaft, Bildung, Kreativität und Innovation fördern und so die Bewohner selbst zu Akteuren und Produzenten werden lassen.

Zusammenfassend soll durch die Aktivierung und das Erleben der Kreisläufe ein authentisches Amatrice entstehen. Aufbauend auf seinen eigenen Ressourcen wird die Verbundenheit zur Natur und Traditionen gestärkt und zusätzlich ein Verständnis für Ressourcenschonung, Nachhaltigkeit und Energieeffizienz entwickelt.

© Lara Giacometti

© Lara Giacometti

© Lara Giacometti

© Lara Giacometti

© Lara Giacometti

GEMEINSCHAFT ERHALTEN

Das Erdbeben hat den Bewohnern gezeigt, was ihnen ihre Stadt bedeutet. Die meisten Menschen werden nach dem Wiederaufbau mit ihren Familien zurückkehren. Für sie soll es in Zukunft bessere Kultur- und Bildungsangebote geben. Der aktuelle Zusammenhalt basiert auf dem Bild des alten Amatrice, darum ist es für den Wiederaufbau notwendig, dieses und seine Atmosphäre zu bewahren.

Durch das Erdbeben mussten die Bewohner in Notunterkünfte umziehen und ihre Gemeinschaft wurde durch den gemeinsamen Verlust gestärkt. Diese gestärkte Gemeinschaft darf keineswegs verloren gehen.

Der alte Corso war Treffpunkt, Versorgungs- und Durchgangsstraße zugleich und dadurch sehr belastet. Darum besteht seine Hauptaufgabe nach dem Wiederaufbau nur noch in der Erschließung. Die meisten Geschäfte werden auf einen neuen Corso verlagert, der als verkehrsberuhigter Rundweg gute Aufenthaltsmöglichkeiten bietet. Der gesamte neue Corso ist mit dem Schutt des alten Amatrice gepflastert und ruft somit immer wieder die Geschichte des Ortes und seine Identität ins Bewusstsein.

Auch durch die Ansiedelung einer Universitätsfakultät für Agrikultur am östlichen Stadteingang wird die Landwirtschaft für Besucher präsent und für jüngeres Publikum greifbar. Hierbei ist es hilfreich, dass die Fakultät ihre Forschungsflächen im neugestalteten Landwirtschaftspark vorfindet.

Um das Bild Amatrices zu bewahren, werden die Häuser so, wie sie waren, weitestgehend wiederhergestellt. Bereits zuvor unbebaute Flächen werden als Community Gardens ausgebaut. Jeder Garten geht eine Symbiose mit einem Nachbarhaus ein, das in Richtung des Gartens geöffnet wird und eine flexible Fläche für von der Nachbarschaft organisierte Veranstaltungen bietet.

Das neue Amatrice bewahrt den Charme der alten Stadt und die Identifikation der Bewohner mit ihrer Heimat und stärkt mit vielen Orten der Zusammenkunft die Gemeinschaft der Bewohner.

© Josephine, Jordan

© Josephine, Jordan

© Josephine, Jordan

© Josephine, Jordan

© Josephine, Jordan

© Josephine, Jordan

© Josephine, Jordan

© Josephine, Jordan

AMATRICE — CITTÀ DELLE MILLE FINESTRE

Ziel dieses Entwurfes ist es einen flexiblen Rahmen zu schaffen um einen partizipativen Prozess in Gang zu bringen, der es ermöglicht Amatrice so wieder aufbauen, dass der Ort den heutigen Erfordernissen gerecht wird.

Die Strategie die dabei verfolgt werden soll richtet sich bewusst gegen das bisher verfolgte Konzept „wie es war, wo es war“, da bei bisherigen Wiederaufbauplanungen deutlich wurde, wie hinderlich diese Strategie für einen raschen Wideraufbauprozess wirklich ist (Beispiel: L‘Aquila). Daher rührt der Gedanke einer ersten selbstbewussten Setzung im Stadtzentrum, die dem Wideraufbau als Initialzündung dienen soll. Diese soll es den Bewohnern ermöglichen schnell wieder in die Stadt zurückzuziehen und sich zu versorgen, um somit Teil des Wiederaufbaus zu werden.

Diese erste Setzung benötigt jedoch ein äusserst hohes Maß an Flexibilität der Grundfläche, um auf verschiedene Prozesse reagieren zu können. So ist dieser Initalzünder als ein „two-step-building“ zu verstehen, dessen Nutzungen je nach Entwicklungstrend angepasst werden können. In der ersten Phase des Wiederaufbaus setzt sich das Gebäude aus einem gewerblich genutzen Erdgeschoss und Kleinstwohnungen für eine maximale Bewohneranzahl zusammen. Auch wenn sich später Nutzungen und Wohnungsgrößen ändern, bleibt jedoch stets das öffentliche Erdgeschoss Teil des Stadtraums.

Zur Orientierung der Bewohner soll Amatrice auf einem ähnlichen Stadtgrundriss wieder aufgebaut werden, wie es vor dem Erdbeben existiert hat. Die Stadtstruktur auf Grundlage des ehemaligen Strassennetzes ordnet sich klar dem Corso Umberto unter. Aus einer detaillierten Analyse der Gebäude entlang des Corso wurde die Systematik des kleinteilig strukturierten Stadtkörpers ersichtlich. Diese dient als Ausgangspunkt eines Regelwerks für den Wiederaufbau, das es mit einer gewissen Flexibilität ermöglicht, Parzellen neu zu belegen, ohne die ursprüngliche Maßstäblichkeit und Wirkung der Stadtgestalt einzubüßen.

© Konstantin Kirstein

© Konstantin Kirstein

© Konstantin Kirstein

© Konstantin Kirstein

© Konstantin Kirstein

© Konstantin Kirstein

© Konstantin Kirstein

© Konstantin Kirstein