Habilitation

Bildung mit System – Westdeutsche Campusuniversitäten der Nachkriegszeit

Habilitationsprojekt von Dr. Lisa Beißwanger

In der Bundesrepublik Deutschland der 1960er- und 1970er-Jahre herrschte ein regelrechter Universitätsbau-Boom. Auslöser waren weitgreifende Bildungsreformen, die im Kontext des sogenannten Wirtschaftswunders und des politischen und technologischen Wettrüstens im Kalten Krieg auf einen akuten Mangel an qualifizierten Arbeitskräften reagierten. Vielerorts wurden Hochschulen und Universitäten erweitert oder vollständig neu gegründet und gebaut. Abseits historischer Stadtzentren – und damit im Einklang mit städtebaulichen Konzepten der Zeit – entstand der für Deutschland neuartige Typus der Campusuniversität. Auffällige Gemeinsamkeiten dieser damals als „Denkfabriken“ oder „Massenuniversitäten“ bezeichneten Orte – Bezeichnungen, die positiv konnotiert waren – sind ihre schiere Größe und die konsequente Systematik, mit der sie geplant und gebaut wurden. Auf der Grundlage festgelegter Rastergrößen wurden Bausysteme entwickelt, die größtmögliche Effizienz, Flexibilität und Erweiterbarkeit versprachen. Zugleich verbanden sich mit diesen Entwürfen gesellschafts- und bildungstheoretische Ideale wie individuelle Freiheit und interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die betont demokratische Rhetorik, die diese Projekte stets begleitete, mag aus heutiger Sicht im Widerspruch zu ihren riesigen Dimensionen und ihrer auf Standards und Normen basierenden Industrieästhetik stehen.

Dieses Projekt fragt nach den historischen, soziopolitischen und epistemologischen Dimensionen von Campusarchitektur. Architektur wird dabei einerseits als Spiegel ihrer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontexte betrachtet, andererseits als formative Kraft, die das Zusammen-Leben und -Arbeiten gestaltet. Hochschul- und Universitätsbauten zeigen dabei als „Innovationsagenturen“ (Pasternack 2001) einer Gesellschaft nicht nur ob und wie, sondern auch in welche Zukunft investiert wird. Ein besonderes Augenmerkt liegt auf dem Denken in Rastern und Systemen und seiner historischen Verknüpfung mit den aufkommenden Wissenschaftszweigen der Systemtheorie und Kybernetik. Die untersuchten Projekte markieren hier, so die These, einen Umbruch im architektonischen Systemdenken der Moderne. Die neuen Campusuniversitäten sollten sich selbst erhaltende und Wissen generierende Systeme sein. Ausgehend von den bestehenden Normierungs- und Standardisierungstendenzen gewannen Momente der Flexibilisierung und Automatisierung und damit ein algorithmisches Systemdenken an Bedeutung. Ziel ist keine affirmative Beschreibung dieses Systemdenkens und seiner Analogien in der gebauten Architektur, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit den zugrunde gelegten Parametern, ihren Effekten und ihren Ein- und Ausschlussmechanismen.

Universität Bielefeld, Architektur: Köpke, Kulka, Töpper, Siepmann und Herzog, Bauzeit: 1971–76, Bild: wikipedia.org/N7legion CC BY-SA 3.0Universität Bielefeld, Architektur: Köpke, Kulka, Töpper, Siepmann und Herzog, Bauzeit: 1971–76, Bild: Lisa Beißwanger
Universität Bielefeld, Architektur: Köpke, Kulka, Töpper, Siepmann und Herzog, Bauzeit: 1971–76, Bild: wikipedia.org/N7legion CC BY-SA 3.0Universität Bielefeld, Architektur: Köpke, Kulka, Töpper, Siepmann und Herzog, Bauzeit: 1971–76, Bild: Lisa Beißwanger