Geschichte des Fachbereichs

„… die Anfangsgründe der Baukonstruktionen“

Autorin: Brigitte Kuntzsch

„Anfangsgründe der Mathematik, geometrisches Zeichnen, Optik, Perspektive, Zeichnung der Grund- und Aufrisse und des Durchschnitts ganzer Gebäude, sowie die Anfangsgründe der Baukonstruktionen“ standen auf dem Lehrplan der 1812 in Darmstadt eingerichteten Bauschule für die Handwerker-Weiterbildung. Nur eine Vorgeschichte, aber wichtig für die Anfänge der Architektenausbildung in Darmstadt. Die „offizielle“ Geschichte der TU Darmstadt beginnt im Jahre 1836 mit der Gründung der „Höheren Gewerbschule und der damit verbundenen Realschule“.
Zwei Entwicklungslinien führen zur heutigen Architektenausbildung in Darmstadt. Zum einen gibt es die Linie von der 1812 eingerichteten Bauschule über die 1826 gegründete Realschule – gemeinsame Wurzel der Darmstädter Relagymnasien und der Technischen Universität -, die Höhere Gewerb- und Realschule von 1836 zur Polytechnischen Schule 1869 und schließlich im Jahre 1877 zur Großherzoglichen Technischen Hochschule Darmstadt, der heutigen Technischen Universität. Die zweite Entwicklungslinie beginnt mit der 1839 vom ortsansässigen Gewerbeverein eingerichteten Bauhandwerkerschule und führt über die Landesbaugewerkschule – die ehemalige Winterbauschule -, die Hessische Landesbauschule und die Staatsbauschule über die Staatliche Ingenieurschule zur 1971 gegründeten Fachhochschule Darmstadt.
Die Geschichte der Technischen Universität ist nicht nur eine des Erfolgs und der prosperierenden Weiterentwicklung. Zunächst wurde sie beeinflusst von der bereits im 18. Jahrhundert geführten öffentlichen Diskussion über die Gleichberechtigung der realistischen Lehranstalten neben den humanistischen, die im Darmstadt der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts zwischen dem Direktor des Gymnasiums, Julius Friedrich Karl Dilthey, und dem Direktor der Höheren Gewerb- und Realschule, Theodor Schacht, erneut aufflammte.

Das bescheidene Fächerangebot und die einfache Organisationsstruktur der Höheren Gewerb- und Realschule wurden rasch ausgebaut, aber sie war zunächst nur eine „allgemeine Vorschule für technische Berufsarten“. Die Institution sollte zwar eine technische Grundausbildung vermitteln, aber keinesfalls „Architecten, Ingenieurs, Mechaniker etc. schon fertig liefern“. Auf den allgemeinbildenden Unterricht folgte nach einer Aufnahmeprüfung die Oberklasse mit Baukunde, architektonischem Zeichnen und Konstruktionslehre mit Zeichnen als Voraussetzung für ein Fachstudium andernorts. Ab 1849 gehört die „Bauclasse“ zu den fünf selbständigen Abteilungen und gliedert sich in die zwei Klassen umfassende „Allgemeine Abtheilung“ und einen dreijährigen fachspezifischen Ausbildungskurs. Damit konnte der Absolvent zu den Staatsprüfungen der Lokalbaubeamten zugelassen werden, allerdings nur, bis 1853 festgelegt wurde, dass die Staatsprüfungen für die Aufnahme in höhere Stellen des Staatsbauwesens ein dreijähriges Universitätsstudium und ein Fakultätsexamen an der Landesuniversität voraussetzten.

Ganz entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung der Höheren Gewerbschule in die Richtung einer polytechnischen Anstalt hatte der Nachfolger Theodor Schachts, der Mathematiker und Physiker Edmund Külp. Obwohl die Institution schon 1859 die Organisationstruktur der künftigen Polytechnischen Schule hat, sinken die Schülerzahlen drastisch. Zum einen hat die Gewerbschule den Ruf einer „niederen Anstalt“, zum anderen ist sie für ihre schlechte Lehrerausstattung bekannt. Trotz intensiver Bemühungen gelingt es Külp nicht, die Regierung davon zu überzeugen, die notwendigen Mittel für einen Lehrer des Eisenbahn-, Straßen- und Wasserbaus zu bewilligen und damit den Erfordernissen der Zeit Rechnung zu tragen. 1864 verfügt die Regierung die Trennung der Real- von der Gewerbschule und deren Umwandlung zur „Technischen Schule“. Damit war die Institution zu einer Vorbereitungsschule auf das technische Studium degradiert.
Es werden heftige Debatten über die Notwendigkeit eines Polytechnikums, aber vor allem über die Finanzierung der neuen Darmstädter Institution geführt. Immer wieder ist das Argument zu hören, dass es für einen Staat von so bescheidener Größe und dürftigen finanziellen Mitteln wie das Großherzogtum Hessen verschwenderisch sei, an die Einrichtung eines vollwertigen Polytechnikums zu denken, vor allem dann, wenn man die Folgekosten einer solchen Institution in Betracht zieht. Die Bemühungen Hessen-Darmstadts, an den zeitgemäßen Modernisierungsbestrebungen teilzuhaben, waren zäh und oftmals halbherzig, wenn man bedenkt, dass im benachbarten Großherzogtum Baden bereits 1825 das Polytechnikum Karlsruhe nach dem Vorbild der Pariser École Polytechnique gegründet worden war.

„Die Polytechnische Schule ist eine Technische Hochschule.“

Obwohl das Organisationsstatut der 1869 eröffneten Polytechnischen Schule in Darmstadt mit diesem Satz beginnt, unterscheidet sich die Institution in ihrer Organisationsstruktur nicht von der Höheren Gewerbschule in der Zeit von 1859 bis 1864. Auf die mit einem Maturitätsabschluss abgeschlossene allgemeine Schule folgte als eine der Fachabteilungen die in vier Jahreskursen angelegte „Bauschule“ und führte direkt zur Zulassung zu den akademischen Examen als Voraussetzung für die Staatsprüfung zum höheren Staatsdienst im Baufach. Für die freiberuflichen Architekten war nur eine dreijährige Ausbildung vorgesehen.

Erst mit der endgültigen Abkopplung von der Realschule, an der nun die Reifeprüfung abgelegt werden kann, sind die Voraussetzungen für den letzten Schritt gegeben: Mit der Umwandlung zur Großherzoglich Technischen Hochschule Darmstadt im Jahre 1877 erhält die Universität nicht nur einen neuen Namen, sondern auch ein geändertes Organisationsstatut, das das Abitur als Eingangsvoraussetzung festlegt und das Prüfungswesen neu regelt. Den Studienabschluss bildet die Diplomprüfung, die zugleich auch Voraussetzung für die Staatsprüfung ist. Daran hat sich im Wesentlichen bis heute nichts geändert.

Noch einmal war der Weiterbestand der Hochschule gefährdet, als in Folge der Wirtschaftskrise Ende der 70er Anfang der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts die Studentenzahlen drastisch zurückgingen. Der Finanzausschuss der Regierung drohte, die staatliche Finanzierung einzustellen. Dem unermüdlichen Engagement des damaligen Darmstädter Oberbürgermeisters Albrecht Ohly ist es zu verdanken, dass die Hochschule nur knapp einer Auflösung entging. Er argumentierte in erster Linie mit den umfangreichen Geldern, die von der Stadt Darmstadt aufgrund des seit 1839 bestehenden gemeinsamen Finanzierungssystems von Stadt und Staat in diese Institution geflossen waren.
Die Zweite Kammer, die Volksvertretung des Landesparlaments, stimmte zwar dem von der Regierung vorgelegten Auflösungsbeschluß zu, aber die Erste Kammer, die Standesvertretung des Adels, legte ein Veto ein und das auch nur, um sich nicht der Meinung der Volksvertretung anzuschließen. So kam es, dass die Kammer, die ansonsten offen gegen die Technische Hochschule agierte, aus machtpolitischen Erwägungen ihren Fortbestand sicherte.

Beeindruckt von den großen internationalen Elektrizitätsausstellungen in Paris 1881 und München 1882 machen sich zwei TH-Professoren und die hessische Landesregierung stark für die Einrichtung einer Professur für Elektrotechnik, ein Lehrgebiet, das in ihren Augen offensichtlich eine große Zukunft hatte. Mit der Einrichtung einer eigenständigen Abteilung für Elektrotechnik und einem entsprechenden Lehrstuhl im Jahre 1882 sowie der Berufung des gerade 30jährigen Erasmus Kittler, der Darmstadt jahrzehntelang zum international anerkannten Zentrum für Elektrotechnik machte, war die Krise endgültig überwunden.

Die weitere Geschichte der Technischen Universität war geprägt von Phasen der Konsolidierung, des Ausbaus, aber auch des Rückbaus im jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Umfeld, wobei aber das Fortbestehen der Institution nie mehr in Frage gestellt wurde.
Eng verzahnt mit der Universitätsgeschichte ist nicht nur ihre Baugeschichte, sondern auch die der Architektenausbildung. Generationen von Architekturprofessoren prägten mehr oder weniger das Erscheinungsbild ihrer Hochschule und der Stadt, ebenso wie die jeweils auszubildende junge Architektengeneration.

Prägende Persönlichkeiten in der Gründungsphase einer neuen Architekturfakultät nach dem Umbruch von 1945 und den politisch motivierten Entlassungen einiger Hochschullehrer der damaligen Technischen Hochschule Darmstadt waren die Architekten Karl Gruber, Max Guther, Ernst Neufert und Theo Pabst sowie der Kunsthistoriker Hans Gerhard Evers und der Maler Bruno Müller-Linow. 1932 auf den Lehrstuhl für Baukunst mit den Fächern Baugeschichte, Entwerfen und Städtebau berufen, war der durch sein Buch „Die Gestalt der deutschen Stadt„ weithin bekannte und politisch unbelastete Karl Gruber, als Architekt, Denkmalpfleger und breit gebildeter Bauhistoriker vielseitig kompetent, der erste Dekan und Nestor in jenem Kollegium, in das 1946 der durch seine „Bauentwurfslehre“ bereits international renommierte Ernst Neufert aus Berlin, danach Max Guther als Stadtplaner aus Ulm und Theo Pabst aus München, dort in Partnerschaft mit Sep Ruf tätig, berufen wurde. Durch Einbindung des – bereits von Gruber mit Kollegen aus dem Bauingenieurwesen gegründeten – Städtebaulichen Colloquiums in internationale Debatten verstärkte Max Guther die interdisziplinäre Kooperation zwischen den Fakultäten, die von Hans-Gerhard Evers durch seine Mitwirkung an der wegweisenden Reihe der „Darmstädter Gespräche„ von anderer Seite her bestens vorbereitet war und über Jahrzehnte insbesondere mit der Fakultät für Kultur- und Staatswissenschaften gepflegt wurde.

Zwei Jahrzehnte nach Kriegsende setzte mit der Berufung von Max Bächer 1965, Gerd Fesel 1966, Wolfgang Müller-Wiener und Günter Behnisch 1967 – der soeben durch seinen Wettbewerbsbeitrag für die Olympischen Spiele in München Furore gemacht hatte und nun die Nachfolge Ernst Neuferts antrat – ein nächster Generationenwechsel ein, in dem nicht nur in den technischen Fächern und in der Entwurfslehre neue Akzente gesetzt wurden, sondern auch im Ausbau der historischen und insbesondere der künstlerischen Fächer: Mit der Berufung des international bekannten Bildhauers Waldemar Grzimek auf die Professur für Plastisches Gestalten wurde eine deutliche Ergänzung zu den von Bruno Müller-Linow vertretenen Fächern Malen und Zeichnen, Farblehre, Druckgraphik und Typographie geschaffen, – eine Ergänzung auch in fachübergreifender Kooperation, die durch das kollegial freundschaftliche Zusammenwirken dieser beiden Künstler und ihrer Mitarbeiter wesentlich das Klima in dem neuen Haus auf der Lichtwiese bestimmte, in das die Architekturfakultät 1969 aus dem alten Hauptgebäude in der Hochschulstraße am Herrngarten umgesiedelt war.

Nicht zufällig waren die weiträumigen Ateliers und Werkstätten der Künstler in die Erdgeschosszone des Neubaus gelegt worden – und prägten mit ihren Exponaten in Hallen und Gängen das Bild einer auf Entfaltung künstlerischer Potentiale hin angelegten Ausbildungsstätte. Dieser Umzug ging mit dem Anschwellen der studentischen Protestbewegung und hochschulpolitischen Reformbestrebungen einher, durch die in jenen Jahren um 1970 die Grundzüge jener Studienreform vorgezeichnet wurden, die später als „Darmstädter Modell“ prägend werden sollte.

Sich wandelnde Inhalte und Schwerpunkte in der Ausbildung sind nicht nur eine Reaktion auf die verschiedenen Entwicklungstendenzen des Bauens, sondern auch eine Antwort auf das Wechselspiel von Tradition und persönlicher Vorgeschichte der Lehrenden sowie auf die sich verändernden politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen: Seit Bestehen der Architekturfakultät orientiert sich die Ausbildung der Architekten an den aktuellen Tendenzen und Erfordernissen der Architektur. Die in der Regel aus der Baupraxis berufenen Hochschullehrer schlagen die Brücke zwischen eigener Bautätigkeit und wissenschaftlicher Lehre.

Der Direktor der Höheren Gewerb- und Realschule, Edmund Külp, wagte 1852 im Hinblick auf die rasante Entwicklung von Eisenbahn-, Straßen- und Brückenbau die Prognose, dass „die Wirksamkeit der Architekten im Abnehmen [sei], während diejenige des Ingenieurs im Steigen begriffen ist, was zur notwendigen Folge hat, dass die Zahl der reinen Architekten immer geringer, die der Ingenieure immer größer wird“. Diese Prognose war zwar aus der Sicht der Zeit richtig, sollte sich aber für folgende Architektengenerationen nicht dauerhaft bewahrheiten.

Brigitte Kuntzsch war Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Geschichte und Theorie der Architektur (Leitung: Prof. Dr.-Ing. Werner Durth)