Geschichte des Gebäudes

Ein Paradebeispiel für das „Darmstädter Bausystem“: Das Gebäude des Fachbereichs Architektur

Das Fachbereichsgebäude am Campus Lichtwiese kurz nach der Fertigstellung
Das Fachbereichsgebäude am Campus Lichtwiese kurz nach der Fertigstellung

Autorin: Sandra Wagner-Conzelmann, Fachgebiet GTA

Am südlichen Stadtrand von Darmstadt, ungefähr zwei Kilometer vom innerstädtischen Hochschulbezirk entfernt, befindet sich das Gebäude des Fachbereichs Architektur. Es ist das erste Gebäude einer umfassenden Erweiterungsplanung der TU Darmstadt „auf der grünen Wiese“.
Von weitem erweckt das Gebäude den Eindruck eines kantigen ungestalteten Betonklotzes. Bei genauerer Betrachtung differenziert sich das Bild und es können mehrere Baukörper unterschieden werden: das Hauptgebäude und das Gebäude für die Bibliothek und die Hörsäle. Betonbrüstungen und Fensterbänder spiegeln die Unterteilung des Hauptgebäudes in sechs Stockwerke nach außen und geben der Fassade eine horizontale Gliederung. Der zurückgesetzte Treppenhausturm hingegen betont die Vertikale. Auffallend ist ein wiederkehrendes Maß, dem sich sowohl die Proportionen des gesamten Gebäudekomplexes als auch die Gestaltung der Fassaden durch Betonplatten, Glas- und Freiflächen unterordnen. Dieses wiederkehrende Maß ist als konstruktives und gestaltendes Element bei allen Fachbereichsbauten auf der Lichtwiese, die aus dieser Periode stammen, wiederzufinden. Dieser übergreifenden Erweiterungsplanung liegt ein Bebauungsplan von 1964 mit dem „Darmstädter Bausystem“ zugrunde.

Das Gebäude des Fachbereichs Architektur

Bauarbeiten

Mit der Grundsteinlegung zum Gebäude des Fachbereichs Architektur im Juli 1967 fiel der Startschuss zur Umsetzung des Bebauungsplans für die Lichtwiese. Das Gebäude sollte ein Paradebeispiel für das „Darmstädter Bausystem“ werden.

Nach und nach entstanden dann auf der Lichtwiese auch die anderen Fachbereichsgebäude im „Darmstädter System“, das Gebäude für die Bauingenieure (als Reihentyp, 1968-1970), für die Organische Chemie (als Gruppentyp, 1969-74), für die Physikalische Chemie (als Reihentyp, 1970-73) und für den Maschinenbau (1. Abschnitt 1970-72, 2. Abschnitt 1974).

Bei dem Fachbereichsgebäude für die Architektur handelt es sich um den Gebäudetyp des stapelbaren Geschossbaus mit einem überdachten Atrium. Gemäß des „Darmstädter Bausystems“ besteht das statische Grundgerüst aus einem Stahlbetonskelett, das sich in seiner Stützenweite nach dem für die Fachbereichsbauten der Lichtwiese verbindlichen Grundmaß richtet. Das Stahlbetonskelett baut sich im wesentlichen aus nur vier unterschiedlichen Teilen auf, aus Kassette, Unterzug, Stütze und Fassadenelement. Die Treppenhäuser und die Aufzugschächte aus Ortbeton versteifen das Gebäude und stabilisieren es gegenüber Windbelastung.

Das überdachte Atrium markiert die geometrische Mitte des Gebäudes, um die sich die Galerien der fünf Stockwerke herumziehen. Damit erhält jedes der Stockwerke eine ähnliche Gliederung: in den Ecken befinden sich die Räume für die einzelnen Fachgebiete, dazwischen die Arbeitsräume für die Studenten.

In den Fachgebieten wird der Grundsatz der flexiblen Raumeinteilung umgesetzt: Hier sind nur die Begrenzungswände aus Kalksandsteinen gemauert, die gesamte Binnengliederung jedoch wird von nichttragenden Trennwänden aus vorgefertigten Elementen erzeugt. Die Möglichkeit der variablen Raumeinteilung wird noch heute häufig genutzt.

Im Atrium selbst befindet sich heute in einer Vertiefung die Cafeteria, die treffend „Die Kuhle“ genannt wird. Sie ist Ergebnis eines Studentenentwurfs und der wichtigste Treffpunkt und Kommunikationsort im Hause.

Das Erdgeschoß des Hauptgebäudes wurde um ein Modul vorgezogen, so daß es das Hauptgebäude umfaßt. Im Osten öffnet es sich zu einem Innenhof und verbindet das Hauptgebäude mit dem Baukörper der Bibliothek und der Hörsäle.

Inzwischen haben sich Professoren und Studenten vieler Generationen dieses Gebäude angeeignet, je nach Bedarf umgestaltet und somit immer wieder dem aktuellen Hochschulbetrieb angepaßt. Noch heute steht das Gebäude wie ein Arbeitsinstrument „zur Verfügung“, d.h., daß sich die Grundidee des „Darmstädter Bausystems“ bestens bewährt hat.

Die Erweiterungsplanung der TU Darmstadt „auf der grünen Wiese“

Luftbilder der Lichtwiese

In den 60er Jahren führten steigende Studentenzahlen in Deutschland zu vielen Universitätsneugründungen und zu Erweiterungen alter Universitäten. Auch für die Darmstädter Hochschule empfahl der Wissenschaftsrat zusätzlichen Raum von mindestens 120.000 qm, ein Umfang von mehr als dem Doppelten der bereits vorhandenen Hochschulfläche in der Innenstadt. Zudem sollte eine Erweiterungsmöglichkeit von 100% berücksichtigt werde. Dieses ehrgeizige Vorhaben verlangte ganz neue Planungen außerhalb des inzwischen sehr beengten Hochschulbezirks in der Innenstadt.

Nach langen Diskussionen um den Standort der Erweiterung machte 1963 schließlich ein Grundstückstausch zwischen dem Land Hessen und der Stadt Darmstadt die Bebauung auf der Lichtwiese möglich. Hier hatten sich bereits ab den 20er Jahren Hochschuleinrichtungen angesiedelt, wie z.B. das Hochschulinstitut am Botanischen Garten, das Hochschulstadion und die Hochschulschwimmanlage. Nun sollten noch die Fachbereiche Bauingenieurwesen, Maschinenbau und Teile des Architektur- und Chemiestudiums auf die Lichtwiese ausgelagert werden. Dabei war auch die strategisch günstige Lage der Lichtwiese ausschlaggebend: nur zwei Kilometer vom Hochschulbezirk der Innenstadt entfernt war sie auch zu Fuß noch gut zu erreichen.

Da die Lichtwiese jedoch auch ein wichtiges Naherholungsgebiet Darmstadts war, erließ die Stadt die Auflage, einen 200 Meter breiten Grünstreifen parallel zu den bereits vorhandenen Wohnbauten unbebaut zu lassen. Dieser Grünstreifen wurde aufgeforstet und ist beliebtes Ziel für Spaziergänger.v

Der Bebauungsplan von 1964

Modell der Bebauung der Lichtwiese

Grundlage des Bebauungsplans für die neue Hochschulanlage war es, den sich ständig ändernden Anforderungen und Entwicklungen der Universität baulich gerecht zu werden. Dabei sollten vor allem auch Erweiterungsmöglichkeiten der einzelnen Fachbereiche gewährleistet sein. Diese Forderungen wurden in einer umfassenden Planung des Hochschulbauamts Darmstadt umgesetzt: Das gesamte zu bebauende Gebiet auf der Lichtwiese wurde in Fachbereichsquartiere (damals „Fakultätsbereiche“ genannt) eingeteilt, innerhalb derer die einzelnen Bauten auf der Grundlage eines gemeinsamen Massen-Moduls variiert werden konnten. Damit konnte jeder Fachbereich in seinem Quartier je nach Bedarf expandieren, in Reihung, Turmform oder in einer ergänzenden Anzahl von Hallen. Das Bauvolumen hätte sogar um 100% gesteigert werden können, ohne die Grundkomposition des gesamten Hochschulgebietes auf der Lichtwiese in Ungleichgewicht zu bringen.

Die Fachbereichsquartiere selbst wurden durch Grünflächen voneinander getrennt, die die gesamte Anlage auflockerten und sie mit der umgebenden Natur verbanden. Gleichzeitig zogen sich die Grünflächen bis ins Zentrum der Hochschulanlage, wo in einem Forum Einrichtungen zur Versorgung der Hochschulbevölkerung, z.B. eine Mensa und mehrere Läden, entstehen sollten, aber auch interfakultative Bauten, wie z.B. ein großer Hörsaal und eine Bibliothek. Der Fahr- und Fußgängerverkehr sollte voneinander getrennt auf unterschiedliche Plattformen gelegt werden. Diese B-Ebene sollte die Fachbereichs-Gebäude untereinander und mit dem zentralen Forum verbinden.

Aus finanziellen Gründen und aus Gründen der veränderten Hochschulentwicklung wurde jedoch die Realisierung dieser Bauten zurückgestellt. Erst 1975 erhielt das Gelände mit der Mensa ein bauliches und kommunikatives Zentrum, das jedoch kein Ersatz für das geplante zentrale Forum war. Auf die Ausführung der B-Ebene wurde gänzlich verzichtet.

Das „Darmstädter Bausystem“

Das Darmstädter Bausystem

Die Hessische Staatsbauverwaltung beauftragte das Staatliche Hochschulbauamt ein Fertigteil-System zu entwickeln, das große Flexibilität und Erweiterungsmöglichkeiten im Mikro- und Makrobereich ermöglichen und gleichzeitig ein hohes Maß an Wirtschaftlichkeit im Bauen garantieren sollte.
Zur Umsetzung dieser Ansprüche planten die Architekten vom Hochschulbauamt sogenannte „Verfügungsgebäude“, die in industrieller Serienfertigung hergestellt werden sollten. Die Gebäude wurden so funktionsneutral wie möglich geplant, so daß die jeweiligen Nutzer ihr spezifisches Raumprogramm einpassen konnten. Dabei wurden zwei Gebäudetypen entwickelt, zum einen ein stapelbarer Geschoßbau, zum anderen ein Hallenbau.
Untersuchungen zum Platzbedarf eines Arbeitsplatzes mit Schreibtisch oder eines Laborplatzes führten zu einem für alle Fachbereichsgebäude verbindlichen Grundmaß von 1,25 Metern bzw. 1,875 Metern, das inzwischen auf das Europa-Maß mit dem Vorzugsraster von 1,20 Metern bzw. 2,40 Metern umgestellt wurde.
Die industrielle Serienfertigung in Rohbau und Ausbau gewährleistete die geforderte Wirtschaftlichkeit des Bauvorhabens. Zur Verkürzung der Bauzeiten wurden Stützen, Unterzüge, Kassettendecken und Fassadenelemente vor Ort in einer Feldfabrik gefertigt und direkt verbaut. Das Fertigteil-System und die Fabrikation von Bauteilen vor Ort ließen die Gebäude in Rekordzeit erstehen: Die Rohbauten waren so schnell fertiggestellt, daß das bewilligte Geld für die Bauten ausgegangen war! Daraufhin wurde das Bautempo gedrosselt, was wiederum höhere Kosten verursachte.
Als Vorbild für das „Darmstädter Bausystem“ diente die Erweiterung der Universität Marburg auf den Lahnbergen. Hier wurde mit dem sogenannten „Marburger System“ ab 1961 ein flexibles und variables Bausystem entwickelt, das gleichzeitig das erste Beispiel für standardisiertes Bauen im Hochschulbereich in Deutschland war (Ausführung ab 1964). v