Rechnende Geometrie

Eine Neuinterpretation antiker Bauplanung im Spiegel der Vermessungslehre des Heron von Alexandria

Habilitation

Die breite architekturgeschichtliche Rezeption Vitruvs hat in besonderem Maße dazu beigetragen, dass entscheidende und für das Verständnis antiker Entwurfs- und Planungsprozesse unverzichtbare Wissensfelder bis heute unberücksichtigt geblieben sind.

Während der römische Architekturtheoretiker zahlreiche Rezepturen für den Entwurf unterschiedlichster Formen idealtypischer Architektur präsentiert, bleibt die Frage nach den theoretischen und praktischen Grundlagen ihrer Transformation ins reale Bauwerk, das heißt die konkrete Umsetzung auf der Baustelle mit all den Notwendigkeiten, wie Bauvermessung, Baustellenorganisation und Logistik, weitgehend unbeantwortet. Eine der Ursachen für dieses Desiderat bau- und architekturgeschichtlicher Forschung liegt an der bis heute noch geltenden Vorstellung, dass sich antikes Entwerfen und Planen auf der Basis rein geometrischer Konstruktionsverfahren, also vornehmlich mit dem geübten Gebrauch von Zirkel und Lineal vollzogen hätte.

Über welches Wissen antike Architekten oder Ingenieure aber tatsächlich verfügen mussten, um ihren Entwürfen erst den rational fassbaren maßlichen Rahmen zu geben, der aus den gedanklichen Konstrukten plan- und berechenbare Bauwerke entstehen ließ, bleibt bis heute ein ungelöstes Problem. Auch wenn vereinzelt mathematische Erklärungsmodelle für die Entschlüsselung komplizierter Grundrissgeometrien hinzugezogen wurden, so doch meist nur als sinnstiftende Konnotationen in einer von der physischen Realität des Bauwerk abgekoppelten Interpretationsebene. Dass aber gerade die antike Mathematik auf direktem Wege einen Zugang zur Lösung dieser Fragen bietet, verdankt sich der Überlieferung einer Reihe von Schriften mathematischen und technologischen Inhalts, die sich unter der Autorenschaft Herons von Alexandria vor allem an die Zielgruppe der wissenschaftlich ausgebildeten Ingenieure mit ihren verschiedenen Fachdisziplinen – vom Architekten über den Vermesser bis hin zum Maschinenbauer – richteten.

Das Außergewöhnliche an dieser inhaltsreichen Quelle ist zum Einen ihre nachhaltige Wirkung, die sie während eines langen Zeitraums vom 1. nachchristlichen Jahrhundert bis ins byzantinische Mittelalter nahezu uneingeschränkt entfalten konnte, und zum anderen die Tatsache, dass sie, obwohl seit fast genau 100 Jahren bekannt und in deutscher bzw. englischer Übersetzung publiziert, von der baugeschichtlichen Forschung bisher vollständig übersehen worden ist. Aber gerade die Fülle von Informationen aus dem Bereich der angewandten Wissenschaften, die in anschaulichen Aufgaben und Berechnungsbeispielen gezielt die theoretischen Grundlagen und das praktische Instrumentarium für den unmittelbaren Gebrauch der mit dem breiten Feld der Architektur Beschäftigten vermitteln sollten, ist in der Lage das Wissen und Verständnis vom Entwerfen, Planen und Bauen in der Antike erheblich zu bereichern.

Besondere Aufmerksamkeit innerhalb dieses umfangreichen Themenspektrums, verdient Herons Vermessungslehre, weil in ihr – erstmalig in der wissenschaftlichen Literatur der Antike – eine Rechenweise systematisch dokumentiert ist, die der Begründer der deutschen Mathematikgeschichte, Moritz Cantor, als „rechnende Geometrie“ gekennzeichnet hat. Hierbei handelt es sich um eine sehr alte, bis in die babylonische Keilschriftmathematik zurückreichende Tradition des Rechnens, die, im Gegensatz zur reinen und zahlenlosen Geometrie Euklids, versucht alle Figuren und Körper in Zahlen einzukleiden, das heißt, sie mit rationalen Zahlen beschreib- und berechenbar zu machen. Das größte Problem, dass ein solches Verfahren mit sich bringt, ist die zahlenmäßige Bewältigung der Inkommensurabilität vieler Streckenverhältnisse, die sich nicht mehr mit rationalen Zahlen darstellen lassen, ohne die exakte Geometrie der betreffenden Figuren und Körper zu deformieren. Doch gerade für diese Fälle bietet Heron – im Rückgriff auf eine Jahrtausend alte kulturübergreifende Tradition – ein pragmatisches Rüstzeug systematischer Lösungsansätze, das nicht nur alltagstauglich, sondern auch tief mit den antiken Vorstellungen zum prinzipiellen Aufbau der Welt verwurzelt ist.

Für die elementaren geometrischen Grundbausteine der gesamten antiken Architektur, Kreis, Quadrat und rechtwinklige Dreiecke stehen also mathematische Techniken zur Verfügung, mit deren Hilfe die spezifischen „Irrationalitäten“ dieser Formen numerisch bewältigt werden können: Für den Kreis eine vereinfachte rationale Annäherung an den archimedischen Wert von ?, für das Quadrat eine gegen?2 konvergierende Folge von ganzzahligen Approximationen für das Verhältnis von Seite und Diagonale im Quadrat, die so genannte Seiten- und Diagonalzahlreihe und schließlich die pythagoräischen Zahlentripel, eine Vielzahl unterschiedlich proportionierter aber immer ganzzahlig bezifferbarer Dreiecke, für deren Produktion Heron spezielle Formeln entwickelt hat. Mit diesem Repertoire an Möglichkeiten lässt sich nun die physische Welt der Antike – und damit natürlich auch ihre Architektur – auf der Grundlage eines weit verbreiteten, standardisierten Handbuchwissens quantifizieren und damit in die komplizierten Prozesse des Planens und Bauens objektivierbar integrieren. Wie sonst hätte man solche anspruchsvollen Großprojekte wie das Theater von Epidauros mit seiner immensen ‚geometrisierenden’ Landschaftsveränderung oder die Planung eines konstruktiv und formal so innovativen und singulären Bauwerks wie die Hagia Sophia überhaupt bewältigen können.

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, das hier kurz skizzierte und in den schriftlichen Quellen Herons von Alexandria eingelagerte theoretische Wissen am Beispiel einiger herausragender Bauten zu verifizieren. Als vorrangiges Auswahlkriterium der im Folgenden vorgestellten Bauwerke galten die ihrem Plan zugrunde liegenden anspruchsvollen geometrischen Konzepte, die sich bis heute einer plausiblen Erklärung widersetzt haben. Weder für die Hagia Sophia, deren Grundriss von der Überlagerung unterschiedlicher geometrischer Figuren geprägt ist, noch für das Theater von Epidauros dessen gesamter Plan von der für die Antike nur schwer zu vermessenden Figur des Fünfecks bestimmt ist, konnten befriedigende Erklärungsmodelle vorgelegt werden. Aber auch die scheinbar klare Achteckgeometrie des Turms der Winde als Verschränkung mehrer Quadrate ist ohne die Anwendung der „rechnenden Geometrie“ nicht planbar. Deshalb werden auf den folgenden Seiten als ausgewählte Bauwerke die spätantike Hagia Sophia in Istanbul, der römerzeitliche Turm der Winde in Athen und das griechische Theater in Epidauros als originäre Quellen des Wissens ihrer Zeit wahrgenommen und erstmals in den Kontext der hierzu verfügbaren technologischen Schriften des Altertums gestellt.