ALLE wohnen! – MODELLPROJEKT FÜR OBDACH- UND WOHNUNGLOSE MENSCHEN IN BERLIN
Masterthesis Sommer 2022

Herausgegeben vom Fachgebiet Entwerfen und Gebäudetechnologie (Prof. Anett-Maud Joppien)

Die Thesisaufgabe sah den Entwurf eines Wohnhauses für obdach- und wohnungslose Menschen in Berlin vor. Zielsetzung war es, einen Wohnort zu schaffen, der mit zusätzlichen Angeboten den  Weg zurück in die Gesellschaft und  somit in die Unabhängigkeit ebnet.

Ehemaligen Obdachlosen ein Zuhause geben – das ist das Ziel des neue gestalteten Wohngebäudes im Herzen Kreuzbergs. Bei der näheren Auseinandersetzung mit dem Ort, wird schnell klar, wieso das Gebäude an dieser Stelle den perfekten Platz hat. Gegenüber des Bebauungsgrundstücks liegt ein wichtiger Teil der Berliner Geschichte – konserviert in den Mauern des Fichtebunkers. Ursprünglich als Gasometer gebaut, bot der Bunker während der Bombennächte 30.000 Menschen Schutz. Später wurde der fensterlose Bunker als Obdachlosenasyl genutzt, bis er nach einem Mord – als Bunker der Hoffnungslosen getauft – geräumt wurde. Heute befinden sich auf dem Dach luxuriöse Loftwohnung mit Vorgärten.

Gerade an diesem Ort, wo früher Menschen unter unwirklichen Umständen lebten, soll als Modellprojekt, ein qualitativer Wohnraum für ehemalige Obdachlose entstehen. Dabei wird das Motiv der Reihenhaustypologie auf dem ehemaligen Bunker aufgegriffen. Durch eine Terrassierung der Gebäude nach Süden erhält jede Wohnung eine private Gartenzone, die sich durch eine raumbildende Laubenstruktur eng mit dem Freiraum verzahnt.

Die Freiflächen um das Gebäude sollen öffentlich zugänglich gemacht werden. Das Gebäude soll sich dem Kiez stark präsentieren und den Austausch fördern. Der Gebäudekomplex dient dabei als Eingangssituation in einen öffentlich gestalteten Park im Umfeld des Fichtebunkers.

„Im Grün“ können Menschen selbstbestimmt Grenzen zwischen privater und öffentlicher Sphäre ziehen. Zwischen drinnen und draußen, sowie Gesellschaft und Rückzug kann durch die Raumkonzepte frei gewählt werden. Der Entwurf stellt die Schutzbedürftigkeit und das Bedürfnis nach einem Ort des Austausches gleichberechtigt in seinen Mittelpunkt: Die Möglichkeit für einen sicheren sozialen Mikrokosmos, basierend auf gemeinschaftlichen Aktivitäten einerseits, und eigenen Räumen andererseits, ist Zielsetzung dieser Arbeit.

„Im Grün“ fügt sich städtebaulich in die Umgebung der Berliner Blockrandbebauung ein. Die dadurch entstandene Form eines Riegels schließt an die Brandwand an, die im Osten das Grundstück charakterisiert. Der Kopf, der Abschluss des Riegels, beherbergt öffentliche und gemeinschaftliche Funktionen. Somit wird eine Auftaktsituation für den angrenzenden Freiraum geschaffen. Der Freiraum wird weiterhin über vier Stadthäuser definiert, die sich über Laubengänge in das Gebäude integrieren. Ergebnis dieses Dreiklangs aus Stadthäuser, Riegel und Brandwand ist der Hof, der die zentrale Rolle des Entwurfs einnimmt – räumlich und funktional. Die Funktion des Hofes konstituiert sich über die angrenzenden Werkstätten und Ateliers:

Ein Werkhof als Ort des Miteinanders entsteht.

Dieser Bewohner*innen-interne Bereich wird durch die Ausdehnung des Arbeitsbereiches ins Freie gestärkt. Weiterhin aktivieren die Ateliers mit ihren Schaufenstern zur anderen Seite hin den Freiraum auf der Südseite des Gebäudes. Die Erdgeschosse der Stadthäuser bilden somit ein verbindendes Element der zwischen Park und Hof.

Dieser erweitert sich im 1. OG durch einen zweigeschossigen Laubengang, der die Maisonettewohntypen im Riegel mit den Wohnungen in den Stadthäusern verbindet und weitere Möglichkeiten der Begegnung bietet.

Die Wohnungsgrundrisse basieren im gesamten Gebäude auf einem 3,60m Modulraster, welches den Bewohner*innen über raumhohe Schiebetüren erlaubt, die Wohnungsnutzung frei zu konfigurieren.

Ausgezeichnet mit einer Athene-Medaille

Das Wohnhaus in Berlin soll ein neues Zuhause für die Menschen bieten, die das Gefühl von Heimat nicht mehr kennen. Den Bewohner*innen soll wieder Sicherheit und das Leben innerhalb der Gesellschaft zurückgegeben werden. „I´ve never felt safe in a place closed by four walls, in community people make me felt safe.” (Borasi, G., Schwartz, D.: What it takes to make a home [Film]). Um auf das Thema und die Problematik der Obdachlosigkeit in Deutschland aufmerksam zu machen, setzt sich das Gebäude von der bestehenden Struktur ab. Es steht frei im Stadtraum, wird von den städtischen Raumkanten gefasst und ist von Grünraum umgeben. Die zwei Eingänge des Wohnhauses werden durch Rücksprünge markiert und sind überdacht. Ein offener Durchgang führt den Bewohner mit Blick in den Garten zu den Erschließungskernen. Soziale Einbindung und Nachbarschaftskontakte sollen die Obdach- und Wohnungslosen zurück in die Gesellschaft integrieren. Das Raumprogramm fördert den Gemeinschaftssinn aller Altersgruppen. Die vertikale Verknüpfung der Wohngeschosse wird durch zentrale Treppenkerne generiert und durch Gemeinschaftsbereiche ergänzt. Dort ergeben sich Pufferzonen, Warm- und Kalträume. Durch die Polycarbonat Fassade entstehen diese Bereiche mit unterschiedlichen Raumqualitäten. Mehrere zweigeschossige Galeriebereiche lassen interessante Blickbeziehungen innerhalb der Wintergärten zu. Dieser wird durch Lufträume zusätzlich belichtet.

Das „Kreuz und Quer“ ist ein Modellprojekt für obdach- und wohnungslose Menschen in Berlin. Der Entwurf verfolgt zwei Leitideen: die Identifikation der Bewohner:innen mit 'ihrem' Zuhause und die Ausformulierung einer Einladung an die Nachbarschaft.

Die Setzung geht behutsam mit dem Bestand um und öffnet sich dem Quartier durch den Rücksprung mit Garten und Vorplatz. Das Erdgeschoss steht den Nachbar:innen offen, während die Einheit um den Multifunktionsraum in Verbindung mit dem Critical Hub zu einer Anlaufstelle für Menschen in Not werden kann

Die begehbare Dachlandschaft des „Bikinigeschosses“ bildet die Schnittstelle zu den Wohngeschossen: Diese sind in drei Gebäudeteile gegliedert, in deren Fugen die Erschließung über die externen Treppentürme liegt.

Im dritten und vierten Geschoss bilden in den Eckteilen die familien- und rollstuhlgerechten Wohnungen eine Einheit, während im Mittelteil Platz für barrierefreies und am Laubengang kurzzeitiges Wohnen vorgesehen ist. In der Dachstadt auf dem fünften und sechsten Geschoss sind die Cluster und Gästeappartements angesiedelt.

Die Struktur des Gebäudes bildet ein Recyclingbeton-Fertigteilskelett, das dem Cradle-to-Cradle-Prinzip folgt. Die Fassaden bestehen vollständig aus recycelten Materialien.

Wir alle wollen nicht irgendwie wohnen, sondern sehnen uns nach einem eigenen Platz in der Welt. Das „Kreuz und Quer“ bietet mit seinen Räumlichkeiten, aber auch mit dem der Gestaltung überlassenen Garten Möglichkeiten zur Aneignung.

Ausgezeichnet mit dem Fachbereichspreis für die beste Masterthesis

Das Modellprojekt „Alle Wohnen“ schafft unbefristeten Wohnraum für obdach- und wohnungslose Menschen in Berlin nach dem Ansatz des „Housing First“ Konzepts und ist ein Gegenentwurf zu den oft unangemessenen Notunterkünften. Ziel ist es, Wohn- und Gemeinschaftssituationen zu gestalten, die auf die individuellen Bedürfnisse des breiten Spektrums an Bewohner*innen reagieren.

Das Gebäude schließt an die Brandwand zur Nachbarbebauung an und verlängert die Flucht der Stadtfassade zur Körtestraße. Der abgerundete Kopf des Baukörpers beherbergt im Erdgeschoss das Café, in den Obergeschossen die gemeinschaftlichen, hausinternen Nutzungen und bildet den Übergang zwischen dem belebten Straßenraum und den in ihrer Privatheit gestaffelten Außenräumen. Das begehbare Dach stellt das Gegenstück zu den luxuriösen Wohnungen auf dem Dach des Fichtebunkers dar. Die durchlaufenden Balkone erweitern die Nutzungen in den Außenraum und entwickeln sich zu einem Gewächshaus.

Die Wohngruppen können direkt von der Straße aus über Treppentürme erschlossen werden. Die Grundeinrichtung besteht aus einem Modul mit Duschbad, einer Kochzeile, Schlaf- und Lagermöglichkeiten. Nach Bedarf können Wohngemeinschaften gebildet oder ein zusätzlicher Raum zugeschaltet werden. Zweigeschossige Aufenthaltsbereiche verknüpfen die Nutzungen dreidimensional und ermöglichen eine Belichtung bis tief in das Gebäude.

Die Skelettkonstruktion in den Obergeschossen schafft Flexibilität im Grundriss bei sich ändernden Anforderungen.