Serie 2050
Masterthesis Sommersemester 2025

Hrsg. vom Fachgebiet Entwerfen und Industrielle Methoden der Hochbaukonstruktion (Prof. i.V. Martin Baur / Florian Latsch)

Schätzungen zufolge leben heute fast zwei Drittel der Ukrainer:innen in einheitlichen Typenhäusern, die zwischen den 1950iger und 1980iger Jahren in großer Zahl errichtet wurden. Bereits jetzt wurden im derzeitigen Krieg mehr als 130.000 Wohngebäude zerstört. Der Wiederaufbau wird sich also in großen Teilen mit der Schaffung von Wohnraum beschäftigen. Der Wiederaufbau wird auch zu großen Teilen in sozialistischen Massensiedlungen stattfinden. Die Ähnlichkeit und Austauschbarkeit dieser Siedlungen ermutigt dazu, den Entwurf eines Ersatzneubau für ein zerstörtes Gebäude als Fallstudie zu denken. Wir gehen dafür nach Odessa im Süden der Ukraine, genauer in die sozialistische Großsiedlung Cheryomushki. Dort entwerfen wir einen Neubau, den wir hoffnungsvoll Serie 2025 nennen.

Zu diesem Unterfangen gehört ein trotziger Optimismus ebenso wie eine beharrliche Kultur- und Lebensfreude. Unser externer Blick soll nicht aus einer imperialistischen Perspektive des Besserwissens, sondern aus einer diversen Perspektive erfolgen, was pluralistische und vielleicht überraschende Fragen und Antworten produzieren kann.

Die Entwurfsidee besteht darin, die Identität der Zeile zu bewahren und gleichzeitig die Großmaßstäblichkeit und Monotonie der Serie 94 durch funktionale Erweiterungen und Treffpunkte weiterzuentwickeln. Der Ersatzbau interpretiert die prägenden Balkone der Serie 94 in Form angeschrägter Vorsprünge neu und gliedert das Gebäude vertikal. Städtebaulich ist der Ersatzbau vom angrenzenden Wohnturm abgerückt und über einen gemeinschaftlichen Hof mit Wegen mit der Nachbarzeile verbunden. Ein durchlässiger Pavillon ergänzt das EG um flexibel nutzbare Räume. Erschlossen wird der Ersatzbau von der Straße als auch über hofseitige Gartenräume, die jeweils einer Treppenhausgemeinschaft zugeordnet sind und Waschmöglichkeiten bieten. Im EG entstehen Räume für Gewerbe und gemeinschaftliche Nutzungen im auskragenden Baukörper – etwa eine Werkstatt, ein Sportraum und Arbeitsplätze. In den ersten beiden OGs befinden sich neben den regulären 2,5- bis 4,5-Zimmer-Wohnungen zweigeschossige Großwohnungen mit 6-7 Zimmern und Zugang zum Dach. Je drei Wohneinheiten werden über eine gemeinschaftliche Loggia erschlossen, die sich zum Park öffnet und Raum für alltägliche Begegnungen bietet. Die Wohnungen werden über die Küche betreten, verfügen über durchgesteckte Wohnräume mit Loggien auf beiden Seiten und gleich große Individualzimmer. Der regionale Naturstein dient als tragendes Material, ergänzt durch Holzunterzüge und Decken aus recyceltem Brettstapelholz. Die Fassade sowie nichttragende Innenwände werden mit Hanfkalk und Lehmputz gedämmt. Die Fassade nutzt grob gebrochene Steinblöcke als gestalterisches Element, ergänzt durch Brüstungen aus wiederverwendeten Plattenbauelementen. Wo nötig, wird Recyclingbeton verwendet. Ziel ist eine hybride Konstruktion mit materialgerechter Bauweise.

Serie 2025 – Wandelhäuser

In der Ukraine hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine spezifische Kultur der Multifunktionalität und des Umbaus entwickelt. Bedingt durch die Wohnraumknappheit in der Sowjetunion war es selbstverständlich, Zimmer nicht ausschließlich monofunktional zu nutzen, sondern im Tagesverlauf unterschiedlich zu bespielen. Eine weitere Besonderheit stellt die hohe Eigentumsquote dar, die in einer deutlich geringeren Mobilität resultiert. Anstatt mit sich verändernden Lebensumständen auch die Wohnung zu wechseln, wird die eigene Wohnung umgebaut, werden neue Zimmer abgetrennt oder wieder zusammengelegt.

Die Fähigkeit zur Anpassung, zum Wachsen, Schrumpfen und Aneignen ist bereits in der Gebäudestruktur angelegt: Gemauerte Schotten aus Kalksteinblöcken bilden die Tragstruktur der Serie 2025. Definierte Durchbrüche ermöglichen Raumzusammenhänge, die sich im Tagesverlauf verändern lassen und wechselnden Bedürfnissen nach Rückzug und Gemeinschaft gerecht werden können. Schaltbare Zimmer zwischen den Wohnungen ermöglichen eine wechselseitige Zuordnung, können im Bereich der Treppenhäuser aber auch unabhängig genutzt werden. Beidseitig angeordnete Steigzonen ermöglichen eine einfache Umgestaltung der eigenen Wohnung und flexible Deckenfelder bieten die Option der vertikalen Erweiterung. Alle Wohnungen lassen sich barrierefrei anpassen.

Serie 2025+++

Die Serie +++ orientiert sich bewusst am Fußabdruck des Bestandsgebäudes und nimmt den Rhythmus der umliegenden „Scheiben“ als gestalterisches Leitmotiv auf. Der Bau teilt sich in drei Abschnitte, die sich an den städtebaulichen Gegebenheiten orientieren.

Ein zentraler Aspekt ist das Material: lokal gewonnener Naturstein, der das Gebäude durch kreuzförmige und stützenartige Elemente gliedert. Er verbindet robuste, langlebige Bauweise mit sichtbarer Handwerkskunst. Jede Fuge, jeder Schnitt und jede Oberfläche machen die Atmosphäre spürbar. Die Verarbeitung bleibt roh und ehrlich, sodass die Architektur als handwerklich geformtes Werk lesbar wird und nicht als industriell Produziertes.
Die Steine verjüngen sich nach unten und nehmen dem Bau seine Schwere, wodurch der Sockel einladend und menschlich wirkt. Gleichzeitig entsteht eine subtile skulpturale Spannung im Inneren, die Material, Form und Maßstab miteinander verbindet. Die graduelle Abstufung folgt der Logik der Lastverteilung und spart Material, während sie dem Gebäude Ausdruck und Tiefe im Inneren verleiht.
Die Hybridbauweise ermöglicht unterschiedlich große Wohnungstypen und schafft einen vielfältigen Mix. So kann das Gebäude flexibel auf unterschiedliche Bedürfnisse reagieren und sich auch langfristig an neue Nutzungskonzepte anpassen. Die Laubengänge auf der Südwestseite bieten dabei kommunikativen Raum, schaffen Nischen zum Verweilen und tragen zur sozialen Vernetzung der Bewohner*innen bei.
Serie +++ wird so zu einem lebendigen, flexiblen und sozial nachhaltigen Wohnraum, der Tradition, Handwerk und moderne Lebensqualität vereint, Menschlichkeit vermittelt und eine zukunftsfähige Gemeinschaft ermöglicht.