Das Darmstädter System – Verfügungsgebäude in zwei Nutzungsabschnitten am Campus Lichtwiese
Masterthesis Wintersemester 2022/23

Hrsg. vom Fachgebiet Entwerfen und Raumgestaltung (Prof. Johanna Meyer-Grohbrügge)

Das Fakultätsgebäude des Fachbereichs Architektur der TU Darmstadt bedarf einer Sanierung. Für die Dauer jeweils eines Jahres soll dazu nacheinander je ein Viertel des Fachbereichs in ein temporäres Exil übersiedeln. Hierfür ist ein Verfügungsgebäude in der direkten Nachbarschaft zu entwerfen, welches nach Ablauf der Sanierung eine neue Rolle als Gästehaus der TU übernehmen soll, ergänzt um flankierende Angebote eines öffentlichen Gebäudes für Studierende, Lehrende und Besucher*innen aller Art. Wir suchen nach einer Identität des Gebäudes im Spannungsfeld zwischen verschiedenen Polen – Vorzügen und Problemen des „Darmstädter Bausystems“ als Genius Loci, den Dimensionen des Begriffes „Nachhaltigkeit“ in Zeiten des Klimawandels und letztlich den Möglichkeiten des Baus als Experimentierfeld – zunächst für Lehrformate und schließlich dauerhaft für Wohnformen temporärer Gemeinschaften.

Habitat

Das Leitkonzept des Entwurfs von Bea Engelmann ist, ein organisch in sich verwachsenes System zu entwickeln, welches möglichst wenig Grundfläche einnimmt. Zudem ist der Anspruch bei Bedarf standardisierte Raumkonfigurationen für eine maximale Flexibilität der Nutzungen zu ermöglichen.

Sie verortet das Verfügungsgebäude nördlich gegenüber dem Fachbereichsgebäude. Der schmale Baukörper erstreckt sich parallel dazu und bildet dadurch den Auftakt für das zukünftige Bebauungsfeld der Lichtwiese. Die Erdgeschosszone ist im Typus von Werkshallen gestaltet und öffnet sich großzügig für die darin befindlichen öffentlichen Nutzungen.

Die vier Erschließungstürme sind dem Baukörper vorgesetzt und sollen damit eine einladende Geste in Richtung Campus Mitte erzeugen. Die Tragwerksstruktur besteht aus einem einfachen Stahlbaugerüst, dessen Besonderheit die diagonalen Querstreben bilden, die nicht nur tektonisch aussteifen, sondern auch ein raumbildendes Grundgerüst erzeugen.

Die Obergeschosse werden mittels der modular einsetzbaren Funktions- und Versorgungsdiamanten zoniert. Ein Grundmodul des Systems besteht aus vier Stützen und der Rasterdecke, im Zentrum des Moduls liegt der mögliche Anschluss für den Funktionsdiamanten. Auf Basis dieser Systemparameter wurden für die zwei unterschiedlichen Nutzungsphasen jeweils zwei Regelgeschosse entwickelt. Während der ersten Phase als Fachbereichsgebäude wird der Baukörper jeweils über die Funktionsdiamanten in fünf Raumabschnitte gegliedert. Zoniert werden diese Raumabschnitte über Vorhangelemente sowie leichte Trockenbauelemente aus Holz oder Karton. Für die zweite und beständigere Nutzungsphase als Gästehaus werden die Funktionsdiamanten nachverdichtet und ergänzt. Dadurch entstehen im ersten Wohngrundrisstyp durchgesteckte Apartments. Die Funktionsdiamanten bestehen hier aus zwei langen Nassräumen mit Toilette, Waschtisch und Dusche. An den Seiten der Funktionsdiamanten befindet sich außerdem je eine kleine Teeküche. Das zweite Regelgeschoss basiert auf dem Prinzip des Voronoi-Polygon. Die Funktionsdiamanten finden sich hier als ganzteiliges Element mit den Langseiten wie bei dem Apartmentwohnen oder aufgebrochen wieder. An jedem Nassraum befindet sich ein Privatzimmer. Dadurch ergeben sich die unterschiedlichen verwachsenen Clusterstrukturen des „Wohnoroi“.

Masterabsolventin Bea Engelmann erhält den Fachbereichspreis für die beste Abschlussarbeit im Sommersemester 2022.

Der Fachbereichspreis versteht sich als Reiseförderung. Er ist mit 1.000 Euro dotiert und verbunden mit der Aufforderung ein bei der Preisverleihung überreichtes Skizzenbuch nach Rückkehr, gefüllt mit Reiseeindrücken, an den Fachbereich zu übergeben.

LICHTBLICK – Experimentelle Schwelle

Der Entwurf steht als Plädoyer für die lichte Wiese.

Die mit dem Architekturgebäude Cluster-bildende Setzung des neuen Gebäudes hält den Naturraum im Norden frei und nimmt so die Rolle als vermittelnde Schwelle zwischen städtischem Raum und dem freien Feld nach Norden ein. Es begleitet den FB15 auf den 120 Metern Länge entlang der neuen Achse Richtung Zentrum des Campus.

Wichtig ist die visuelle Verbindung, die durch das „Tor zum Feld“ und die tief gelegten offenen Werkhallen im EG den Blick frei halten. Das zentrale Element des Baukörpers ist dessen funktionale Schichtung, in der sich die Ebenen von Süden nach Norden in beiden Nutzungsphasen „privatisieren“. Einleitend wirkt das südliche Erschließungsband, in dem sich Treppen sowie Aufzugkerne befinden. In dieses dehnt sich der Gebäudehauptteil je nach Nutzung und Jahreszeit aus.

Eine weitere Schicht bildet die „Service-Zone“ in der alle Versorgungskerne gleichermaßen geführt werden können. In der Phase 1 ist das Gebäude weniger dicht bespielt. Die Schächte dienen hier der Gliederung des Raumflusses. Beim Wechsel zum Wohnen, docken neue Apartments mit ihren fertigen Sanitärkernen an die Stränge an, und füllen die Schicht im Norden auf.

Der in Abschnitten gedachte Grundriss schöpft die Himmelausrichtung aus. Die Vorzone im Süden dient als alljährlich adaptier – und veränderbares vertikales Experimentierfeld. Im Winter speichert sie als Pufferzone vor den Gemeinschaftsbereichen die solaren Erträge, im Sommer dient sie als Sonnenschutz.

Durch diese flexible Schicht mit ihren eingestellten Arbeits- oder Treffpunktboxen, sowie den bleibenden Werkhallen und dem Experimentierfeld auf dem Dach bleiben die gewonnenen Vorteile für die (interdisziplinäre) Lehre auf dem Campus im und um das Gebäude erhalten.

Lichtturm Lichtwiese

Der neue Hoch- und Treffpunkt des Universitätscampus Lichtwiese positioniert sich zwischen dem Fachbereich Architektur und Mensa. Er erweitert die Hoffolge des Architekturgebäudes um einen „Werkhof für alle“ und einen zentralen Platz in Richtung Mensa. Der Werkhof wird, durch die Weiterführung des Darmstädter Bausystems, mit einem zweiseitigen Stützengang umrahmt. Der Lern- und Wohnturm befindet sich auf der erweiterten Grundplatte. Die öffentliche Erdgeschosszone bleibt in ihrer Nutzung unverändert und fördert den Austausch in beiden Szenarien. So werden die einzelnen Fakultäten der Lichtwiese miteinander in Kontakt gebracht und die vorherrschende Separation gebrochen. Gastronomieangebote orientieren sich zum zentralen Platz hin – der Werkhof dagegen wird u. a. von der Studierendenwerkstatt und dem neuen Plastensaal bespielt und dient als Ort des Einblicks von kreativen Prozessen. Eine Wendeltreppe macht eine Dachlandschaft, die bereits 1970 als zweite Ebene geplant war, zugänglich. Über dem massiven Sockelgeschoss im Darmstädter Bausystem erhebt sich die Holzskelett-Konstruktion des zwölfgeschossigen Turms. Hierbei wird das Raster aufgenommen, die Betonstützen jedoch durch kreuzförmige Holzstützen ersetzt. Vorgefertigte Holz-Betonverbunddecken liegen über Hauptträger auf den Stützen auf. Der Grundriss ist geprägt von einläufigen Treppen, die sich in jedem Geschoss jeweils um 90 Grad um den Treppenkern spindeln. Dadurch entsteht keine Notwendigkeit, den Kern zu verwenden, um in das nächste Geschoss zu gelangen. Die Galeriebereiche zwischen den Treppenauf- und abgängen ermöglichen eine Vielzahl an Begegnungsmöglichkeiten, sowohl während des Unibetriebes- als auch als Nachbarschaftstreff innerhalb der Hausbewohner.

„Die Verwandlung“

Der Entwurf „Die Verwandlung“ veranschaulicht zwei Nutzungen eines Verfügungsgebäudes, als temporäre Auslagerungsfläche des FB15 Architektur auf dem Campus Lichtwiese der TU Darmstadt. Das Gebäude wird nach dem ersten, vierjährigen Nutzungsabschnitt zu einem Gästehaus umgenutzt.

Dem Entwurf liegt die Idee zugrunde, ein offenes Haus zu schaffen, welches sich auch nach außen hin offen zeigt. Ein öffentlicher, vertikaler Kopf, als Auftakt der Lichtwiese zu westlicher Seite, lädt hierbei zum Vorbeikommen und Reinkommen ein. Das Gebäude dient als Schwelle zwischen Lichtwiese und dem angrenzenden Stadtraum. Durch die Positionierung des Gebäudes ergeben sich gleichzeitig ruhige Rückzugsmöglichkeiten, die durch eine Staffelung von öffentlich zu privat gefiltert werden. Mit einer klaren, äußeren Kante öffnet sich das Volumen zum Campus. Sie dient als eine Art Filterschicht. Die verspringende westliche Fassade verzahnt sich mit dem angrenzenden Wald. Der Entwurf spielt mit seinen Ein- und Ausblicken. Schwellenräume in der universitären, sowie der Nutzung als Gästehaus lassen die Funktionsbereiche miteinander verschmelzen, wie auch voneinander trennen. Potentialräume auf verschiedenen Geschossen fördern die vertikale Bewegung der Nutzer*innen durch das Gebäude. Das Gemeinschaftsgefühl wird durch zufälliges Begegnen innerhalb des Gebäudes gesteigert.

Der Entwurf „Die Verwandlung“ kann im weiteren Bestehen auf die Bedürfnisse der Nutzer*innen eingehen und sich weiterentwickeln. Das offene Haus lädt ein, sich zu entfalten und sich sein Umfeld anzueignen. Verschiedene nutzungsoffene Raumangebote fördern die Kommunikation innerhalb der Haus- und Nutzer*innengemeinschaft.

Die Arbeit wurde mit dem WA-Förderpreis ausgezeichnet.

Außerdem wurde die Masterabsolventin mit einer Athene-Medaille ausgezeichnet.

Das Darmstädter Bausystem der 1960er Jahre bot neben Effizienz auch ein großes Maß an Flexibilität in der Anwendung. So konnten trotz einer überschaubaren Anzahl an Elementen verschiedene Gebäudetypologien errichtet werden. Die Anwendung des Prinzips einer vor Ort befindlichen Feldfabrik optimierte zudem den Bauprozess.

Die Entwurfsaufgabe eines Verfügungsgebäudes für den Fachbereich Architektur setzt eine erweiterte Flexibilität voraus: die Adaption des Gebäudes an die Nutzen¬den selbst nach der Errichtung. Zudem muss das Lehrgebäude nach Abschluss der ersten Nutzungsphase in ein Wohngebäude umgewandelt werden können.

Als erster Teil des Gebäudes soll eine Werkshalle für eine Zimmerei entstehen, in der die Bauteile für das Holzbausystem des Gebäudes entstehen. So kann nach und nach – neben dem eigentlichen Verfügungsgebäude – ein Systemquartier entstehen, welches nicht nur geographisch, sondern auch als Teil der Lehre einen Schnittpunkt zwischen dem Fachbereich Architektur und dem Fachbereich Bauingenieurwesen bildet.

Der Entwurf baut daher auf dem Aspekt eines Bausystems auf, welches auch nach der Errichtung die Flexibilität beibehält. Das Holzbausystem wird dabei um ein gebäudeinternes Logistiksystem erweitert. Erst dadurch können die Gebäudeelemente durch einen längslaufenden Lastenaufzug flexibel von der internen Werkstatt auf die verschiedenen Geschosse verteilt werden. Anschließend lassen sich diese in eine Schiene einhängen, womit beispielsweise Böden oder Wände auch über Lufträume hinweg in das Gebäudeinnere transportiert werden können.

Durch die Kombination von Zimmerei, Logistiksystem und Systembauweise lassen sich Umbaumaßnahmen mit geringem Aufwand umsetzen. Gerade für dieses, von Wechseln und Umzügen geprägte, Szenario bieten sich mehrere Vorteile wie beispielsweise offene und hohe Räume für die Lehre. Zu¬dem kann der Nutzungswechsel zwischen Lehr- und Wohngebäude graduell und bedarfsgerecht vorgenommen werden.